Wie bürgerlich ist die Moderne? Bürgerliche Gesellschaft, Bürgertum, Bürgerlichkeit
Joachim Fischer (Dresden) und Andreas Reckwitz (Konstanz) , Kooperation der Sektionen ‘Soziologische Theorien’ und ‘Kultursoziologie’ in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Konstanz
Zeit: 13.-14.07.2007
Ort: Universität Konstanz, Universitätsstr. 10, Raum G 300
Was sind die Merkmale der ‚Bürgerlichkeit’? Gibt es eine – möglicherweise widersprüchliche – Struktur dessen, was das Bürgerliche ausmacht? Kann in Bezug auf die Gegenwartsgesellschaft in überraschender Weise und in neuer Form von einer ‚bürgerlichen’ Gesellschaft die Rede sein? Oder ist die Moderne immer schon bürgerliche Gesellschaft gewesen?
In den letzten Jahren lässt sich ein gesteigertes, insbesondere publizistisches Interesse an einer vorgeblichen ‚Rückkehr des Bürgerlichen’ feststellen – dieses Interesse kann als Symptom dafür verstanden werden, dass die Kategorie der Bürgerlichkeit für die Analyse der Gegenwartsgesellschaft eine größere Erklärungskraft besitzt, als sie ihr in den letzten Jahrzehnten zugeschrieben worden ist. Die Gesellschaftsbegriffe der soziologischen Gegenwartsdiagnostik operieren mit vielfältigen, nicht leicht kompatiblen Vorschlägen: funktional differenzierte Gesellschaft, Risikogesellschaft, Mediengesellschaft, reflexive Moderne, Erlebnisgesellschaft, Individualisierungsgesellschaft, Konsumgesellschaft, neoliberale Gouvernementalität. Sie suggerieren größtenteils, dass die ‚bürgerliche Gesellschaft’ ein Phänomen der Vergangenheit ist. In Auseinandersetzung mit diesen je auf ein Novum zielenden Konzepten will die Tagung prüfen, ob und aus welchen Gründen die Kategorie der Bürgerlichkeit und der „bürgerliche Gesellschaft“ ein schlüssiges Gesamtkonzept einer Soziologie der Moderne gerade auch mit gegenwartsdiagnostischer Kraft bilden könnte. Der allgemeine Kontext der Tagung ist damit das Problem einer Analyse der Struktur und Kultur der Moderne und darin insbesondere das einer adäquaten soziologischen Theorie der Gegenwartsgesellschaft.
Die Frage nach der Bürgerlichkeit der Struktur und Kultur der Moderne erfordert einen interdisziplinären Blick. Vor allem drei Fäden sollen hier während der Tagung aufgenommen werden: die reichhaltigen kultur- und sozialhistorischen Forschungen zur Entwicklung des Bürgertums vom 18. bis zum 20. Jahrhundert innerhalb der Geschichtswissenschaft; die literaturwissenschaftliche, im weiteren Sinne kulturwissenschaftliche Analyse vor allem von Formen bürgerlicher Subjektivität, wie sie sich anhand verschiedendster – literarischer und nicht-literarischer – Diskurse rekonstruieren lässt; schließlich aber auch die Geschichte der soziologischen Gesellschaftstheorie selber, die bei Autoren wie Marx, Weber, Simmel und Sombart (und bereits zuvor bei Ferguson, Smith, Hegel und anderen) Analysen der bürgerlichen Gesellschaft geliefert hat.
Die Kategorie des Bürgerlichen verklammert von vornherein Aussagen über Strukturen („bürgerliche Gesellschaft“), Akteure oder Klassen („Bürgertum“) und Mentalitäts- und Habitusformen („Bürgerlichkeit“). Aber was ist das ‚Bürgerliche’? Die erste Frage, welche die Tagung aus soziologischer, geschichts- und literaturwissenschaftlicher Perspektive thematisieren will, ist die Frage nach den Merkmalen von Bürgerlichkeit selbst, die alles andere als eindeutig, möglicherweise auch von Anfang an immanent widersprüchlich sind: die ökonomische Orientierung des Bürgerlichen zwischen Beruf und Marktrisiko, seine spezifische Struktur der Privatheit und Geschlechtlichkeit, die Konkurrenz von Bourgeoisie und Bildungsbürgertum, die Differenzmarkierung zu einem symbolischen Außen (Adel, Landbevölkerung, Proletariat), das Verhältnis zum Politischen und zum Ästhetischen, die Relation zwischen Rationalisierung und Emotionalisierung des bürgerlichen Subjekts, zwischen bürgerlicher Körperlichkeit und Verinnerlichung – dies alles wären mögliche Aspekte eines historisch sensibilisierten Konzepts des Bürgerlichen. Die zweite, daran anschließende Frage lautet, wie sich die Entwicklung der so verstandenen Bürgerlichkeit innerhalb der Genese und Selbsttransformation der Moderne verstehen lässt: Findet hier tatsächlich bis zur Gegenwart ein Erosionsprozess statt, lässt sich eine Verschiebung der Bedeutung von Bürgerlichkeit, eine Konstanz bürgerlicher Gesellschaft in ihren Grundstrukturen oder eine erneute Aneignung von Bürgerlichkeit am Ende des 20. Jahrhunderts beobachten?
Es stellt sich die Frage, ob es sich bei der Gegenwartsgesellschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts um eine dezidiert „nachbürgerliche“ Gesellschaftsformation der Moderne handelt, um die Durchsetzung der Prinzipien der bürgerlichen Gesellschaft in der Massengesellschaft oder um eine spezifische Kombination von bürgerlichen und nicht-bürgerlichen Elementen – und zwar nach der Kontingenz- und Vernichtungserfahrung des Bürgertums im 20. Jahrhundert im Zusammenhang mit dezidiert nichtbürgerlichen Gesellschaftsprojekten der Moderne. Bewährungsphänomene einer Theorie der „bürgerlichen Gesellschaft“ sind insbesondere die Massengesellschaft und komplementär die Weltgesellschaft. Parallel zur binnengesellschaftlichen Dimension einer „bürgerlichen“ oder „nichtbürgerlichen“ Massengesellschaft ist zu prüfen, inwiefern sich in dem „Weltgesellschaft“ genannten Phänomen (seit 1945) eine transnationale Formation „bürgerlicher Vergesellschaftung“ gebildet hat, die auch den Hintergrund für das Phänomen sog. „Transformationsgesellschaften“ bildet – oder ob ein anderes Prinzip der „Weltvergesellschaftung“ dominiert. Hintergrund ist dabei auch die Frage, inwiefern es sich bei „1989“ um ein Strukturereignis für die soziologische Theoriebildung handelt oder ob sie Theorienbildung unberührt davon fortsetzen kann.
Die Tagung will diese offenen Fragen konzeptionell, aber auch an materialen Feldern der Gegenwartsgesellschaft und der Geschichte der Moderne diskutieren. In den Feldern der Sozialstruktur, der Familie und des Geschlechts, der Ökonomie, des Konsums, der Bildung, der Medien, der Kunst etc. wäre zu prüfen, inwieweit sich im Material grundsätzliche Transformationen der Gesellschafts- und Subjektkonstitution (gegenüber einer „bürgerlichen“ Formation) zeigen lassen oder inwieweit sich in neuen soziokulturellen Gestalten Metamorphosen der Grundmuster „bürgerlicher“ Vergesellschaftung entziffern lassen. Die Tagung will unterschiedliche analytische Perspektiven auf Bürgerlichkeit miteinander konfrontieren: Vertreter einer soziologischen oder historischen Theorie der „bürgerlichen Gesellschaft“, kulturtheoretische und dekonstruktivistische Analysen des Bürgerlichen, Konzeptionen aus der systemtheoretischen und aus der marxistischen Tradition. Die Frage ist damit auch, inwiefern sich diese Theorievorschläge je wechselseitig interpretieren können (z.B. die Systemtheorie die Theorie der bürgerlichen Gesellschaft als „alteuropäisch“, die Theorie der bürgerlichen Gesellschaft die Systemtheorie als eine neue „bildungsbürgerliche Semantik“). Schließlich handelt es sich bei diesem Thema auch um die Frage nach dem Status der „Soziologie“: Ist die „Soziologie“ als Disziplin eine Erfindung der Moderne schlechthin oder fungiert sie als institutionalisierte und alarmierende Dauerbeobachtung des Risikos und der Imperfektibilität einer „bürgerlichen“ Moderne?
Programm
Freitag, 13. Juli 2007
14.00 Uhr Eröffnung
14.15 HEINZ BUDE: Bürgertum und Bürgerlichkeit in der Bundesrepublik
15.15 JOACHIM FISCHER: ‚Bürgerliche Gesellschaft’ als Kategorie einer soziologischen Theorie
16.15 Kaffeepause
16.30 CLEMENS ALBRECHT: Der Kulturkampf um die Moderne, oder: Ist Bürgerlichkeit ein europäischer Sonderweg?
17.30 ANDREAS RECKWITZ: Die hybride Struktur des bürgerlichen Subjekts und die ‚bürgerlich’-expressive Doublette der Spätmoderne
18.30 Kaffeepause
18.45 ARMIN NASSEHI: Bürgerlichkeit und ihre Dementierung als basso continuo der Soziologie
Samstag, 14. Juli 2007
9.30 MANUEL FREY: Stiftungen in der Bürgergesellschaft – Kulturelle Differenzierung und soziale Anerkennung
10.30 BARBARA VINKEN: Mode – postfeudal oder bürgerlich?
11.30 Kaffeepause
11.45 KARL-SIEGBERT REHBERG: Künste als Medium von ‚Bürgerlichkeit’
12.45 Mittagessen
13.45 HAUKE BRUNKHORST: Bürgerliche Weltgesellschaft oder Weltbürgergesellschaft?
14.45 Schluss
Die Konferenz ist für Interessenten der Soziologie, aber auch anderer Disziplinen zugänglich. Information und Anmeldung (eine Anmeldung ist möglich, aber nicht unbedingt erforderlich)
gabi.reichle[at]uni-konstanz.de
oder Tel. 07531 88-5020
Joachim Fischer
TU Dresden, Institut für Soziologie, 01062 Dresden
joachim.fischer[at]tu-dresden.de
http://www.fischer-joachim.org/Varia.htm
URL zur Zitation dieses Beitrages http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=7524