CfP: Dis/ability in History – Behinderung in der Geschichte: Soziale Ungleichheit revisited, 10.2008, Dresden

Sektionsvorschlag auf dem 47. Deutschen Historikertag 2008

Ort: Dresden
Zeit: 30.09.2008-03.10.2008
Deadline: 15.09.2007

Im Rahmen der internationalen Disability Studies, die sich seit einigen Jahren auch im deutschsprachigen Raum formieren (vgl. Lutz et al. 2003; Waldschmidt/Schneider 2007; Dederich 2007), wird unter dem Begriff der „Behinderung“ eine Vielzahl heterogener (auch unsichtbarer) Erscheinungsformen von „embodied difference“ subsumiert. Behinderung steht hier für historische Annahmen über individuelle, medizinisch-körperlich diagnostizierbare „Andersartigkeit“; in unterschiedlichen historischen Kontexten hat sie immer wieder soziale Ungleichheit begründet. Während die „disability history“ in den Disability Studies bereits auf einige interessante Arbeitsergebnisse (vgl. Stiker 1982; Longmore/Umansky 2001; Rose 2003; Borsay 2005; Burch/Sutherland 2006) verweisen kann, finden sich in der deutschen Historiographie Studien zu Behinderung bislang eher selten. Dass gleichwohl der neue Diskurs auch in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft Fuß zu fassen beginnt, zeigt ein Schwerpunktheft zu „Behinderung/Handicap“, das von „Traverse“, der Schweizerischen Zeitschrift für Geschichte (Germann et al. 2006) herausgegeben wurde.

Bei den vorhandenen, spezifisch historischen Zugangsweisen überwiegen bislang Arbeiten, die die Geschichte(n) der Behinderung einseitig als Aussonderungsgeschichte schreiben oder Behinderung lediglich als Gegenstand medizinischer oder fürsorgerisch-sozialstaatlicher Intervention behandeln. Als dritter Strang finden sich vereinzelt Ansätze, die sich im Rahmen der Kulturgeschichte verorten lassen. Disability History als neues Forschungsfeld bietet dann ein großes Forschungspotential, wenn Behinderung in einen gesamtgesellschaftlichen Kontext gestellt und nach historisch wandelbaren Wahrnehmungs-, Thematisierungs- und Regulierungsmechanismen gefragt wird. Dabei erweist es sich als sinnvoll, Behinderung als eine soziohistorische Konstruktion und somit als kontingent zu denken. Beeinträchtigungen und Benachteiligungen, die mit der Zuschreibung Behinderung verknüpft sind, zeigen sich bei näherer, insbesondere Quellen gesättigter Sicht als Produkte kultureller Werte, Erwartungen und Praktiken wie auch als Ergebnis materieller Kräfte und Barrieren.

Die Historiographie von Behinderung auf der Basis eines sozio-kulturellen Modells, wie es in den Disability Studies entwickelt wurde (vgl. Waldschmidt 2005), bringt spezifische Forschungsfragen mit sich. Zu untersuchen sind historische Prozesse der Wahrnehmung von „Anderssein“ bzw. „Normalität“, die auf physische, psychische und mentale Merkmale zurückgreifen, um Behinderung konstruieren zu können. Wie wurde das „Abweichende“ vom „Normalen“ abgegrenzt? Wie entstand der Begriff der Behinderung und mit welchen Qualitäten und Urteilen wurde er belegt? Wie ist der historische Prozess der Entstehung einer Kategorie wie Behinderung in den Kontext von Moderne, bürgerlicher Gesellschaft und Wohlfahrtsstaatlichkeit einzuordnen? Welche wissenschaftlichen Diskurse, politischen und sozialstaatlichen Interventionen wie auch institutionellen Kontrollmechanismen bestimmten diesen Prozess? Welche Einstellungsdeterminanten beeinflussten den Umgang mit Menschen mit Behinderungen? Wie wurden subjektive und kollektive Identitäten (des „Krüppels“, „Behinderten“, „Gehörlosen“ etc.) hergestellt?

Außerdem lässt sich das geschichtswissenschaftliche Instrumentarium dazu benutzen, um zu erkunden, wie die Kategorie Behinderung im sozialen Raum auf weitere Kategorien traf, die die sozialen Zugangs- und Geltungschancen von Subjekten bestimmen. Beispielsweise kann an historischen Beispielen erfragt werden, wie Klasse, Geschlecht, „Rasse“ und Behinderung als Begründungszusammenhänge sozialer Ungleichheiten zusammenwirkten und Konkurrenzen und Hierarchien entstehen ließen. Möglicherweise lassen sich auch verschiedene „Ethiken des Miteinanders“ feststellen, die Auswirkungen auf das im Bereich der Sozialpolitik Mögliche und Machbare haben. Kulturgeschichtliche Untersuchungen sind ebenso denkbar wie biographische oder erfahrungsgeschichtliche Zugänge, die die Alltagswelt von als behindert klassifizierten Menschen und die Konsequen-zen sozialer Ungleichheit thematisieren.

Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen möchten wir im Rahmen des 47. Deutschen Historikertags eine Sektion „Dis/ability in history“ anbieten. Die geplante Veranstaltung verfolgt diese Zielsetzungen: Sie soll insbesondere Nachwuchswissenschaftler(inne)n die Möglichkeit bieten, ihre Forschungsergebnisse vorzustellen und zu diskutieren. Dabei begrüßen wir es, wenn in der Präsentation auf „sinnes“-nahe Darstellungsformen (z.B. Bild-, Film und Hörquellen) zurückgriffen wird. Außerdem soll eine Bestandsaufnahme aktueller Forschungsarbeiten geleistet werden, die sich als deutschsprachige Disability History konturieren lassen. Gleichzeitig soll die Sektion ein Forum zum Austausch und zur Vernetzung bieten. Arbeiten zu folgenden Themenbereichen kommen aus unserer Sicht besonders in Frage:

– Konstruktion von „Anderssein“, „Behinderung“ und „Normalität“
– politische, soziale und kulturelle Umgangsweisen mit Behinderung, soziale Einstellungen, Reaktionsweisen und Problematisierungen
– Institutionalisierungen, Handlungsprogramme und ihre Umsetzungen
– soziale Rollen, soziale Positionen und Handlungsspielräume von Menschen mit „Behinderungen“
– Biographie, Identität und Intersektionalität im historischen Kontext von Behinderung

Wir freuen uns auf Themenvorschläge aus der kritischen Sozial- und Politikgeschichte, Arbeiten mit erfahrungsgeschichtlichem oder kulturgeschichtlichem Ansatz sowie weitere Studien aus dem Bereich der Disability History, die sich einer oder mehrerer der genannten Fragestellungen widmen. Die Beiträge können sowohl auf Epochen und Räume beschränkt als auch zeitlich und räumlich übergreifend und vergleichend angelegt sein. Sie sollten jedoch auf Deutschland und Europa fokussieren.

Interessentinnen und Interessenten für Beiträge werden gebeten, ihre Themenvorschläge bis spätestens 15. September 2007 an das Organisationsteam zu senden. Aus den Vorschlägen wird ein Programm zusammengestellt und beim Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHHD) eingereicht. Vorbehaltlich einer Zulassung der Sektion durch die Veranstalter des Historikertags wird zu gegebener Zeit eine Rückmeldung erfolgen. Erwünscht sind einseitige Exposés mit Vortragstitel und Abstract (incl. Name, Fachrichtung, E-Mail-Adresse, Kurzbiografie), die an eine der ua. E-Mail-Adressen geschickt werden können.

Prof. Dr. Anne Waldschmidt
Universität zu Köln
Humanwissenschaftliche Fakultät
Department Heilpädagogik und Rehabilitation
iDiS – Internationale For-schungsstelle Disability Studies
Frangenheimstr. 4, 50931 Köln
Tel. 0221-470-6890
anne.waldschmidt[at]uni-koeln.de

Dr. phil. Anne Klein
Universität zu Köln
Humanwissenschaftliche Fakultät
Institut für Erziehungs- und Sozialwissenschaften
Gronewaldstr. 2, 50931 Köln
Tel. 0221-470-6618
anne.klein[at]uni-koeln.de

Elsbeth Bösl M.A.
Graduiertenkolleg der
Hans-Böckler-Stiftung „Arbeit – Gender – Technik. Koordinaten postindustrieller Modernisierung“
Münchener Zentrum für Wissenschafts-und Technikgeschichte, Deutsches Museum, Museumsinsel 1, 80538 München, Tel.: 089-2179-447
elsbeth.boesl[at]mzwtg.mwn.de

URL zur Zitation dieses Beitrages: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=7553

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