PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, 174 (März 2014) (Web)
Deadline: 01. September 2013
Bereits zu Beginn des 20. Jhds. rangen sozialistische und kommunistische Feministinnen wie Clara Zetkin oder Alexandra Kollontai mit der Frage, wie die Kritik an der Unterdrückung der Frau mit einer allgemeinen Kritik der kapitalistischen Produktionsverhältnisse verbunden werden könnte. Diese Frage erhielt mit der Lohn-für-Hausarbeit-Kampagne in den 1960er Jahren neuen Aufwind. Die Erkenntnis, dass die Geschlechterdifferenz mit der Trennung von Re- und Produktionssphäre verbunden ist, führte dazu, dass sich die Aufmerksamkeit auf die Reproduktionssphäre richtete. Damit wurde sowohl die produktionszentrierte Analyse als auch der produktionszentrierte Arbeitsbegriff feministisch in Frage gestellt und auf die ‚relative Autonomie‘, Eigenständigkeit und Eigenheit der Reproduktion, und in diesem Zusammenhang der Geschlechterverhältnisse, verwiesen. Zugleich wurde jedoch von verschiedensten Feminist_innen konstatiert, dass es auch innerhalb der marxistischfeministischen Auseinandersetzung zu einem ‚ökonomistischen Funktionalismus’ kommen kann.
Es war noch längst nicht klar, wie die Eigenlogik und Eigendynamik von Geschlechterverhältnissen sowie nicht-kapitalistischer (Re)Produktion im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang gedacht und wie sie bestimmt werden können. Diese Schwäche zeigt sich auch in der Debatte um die ‚Krise der (sozialen) Reproduktion‘ oder der ‚Care-Krise‘, wo oft nicht genau klar wurde, was denn nun das Krisenhafte der Zuspitzungen im Care-Bereich vor dem Hintergrund einer gesamtgesellschaftlichen Analyse ist.
Gegen den weißen materialistischen Feminismus wurde eingewandt, dass ein feministisches Projekt nicht auf der Universalisierung der Position der weißen Mittelstandsfrau basieren kann. Besonders Feminist_innen of Color verweisen in diesem Zusammenhang auf die Relevanz der ‚unfreien Arbeit’ von Sklav_innen, Illegalisierten oder anderen unfreien Arbeiter_innen; denn auch Verschiebungen in den Geschlechterverhältnissen einiger (privilegierter)
Mittelschichtsfrauen müssen keine emanzipatorische Veränderung bedeuten, sondern können gerade auf der Grundlage einer rassistischen Klassengesellschaft basieren. Es stellt sich also die Frage, welche Formen der Emanzipation die unterschiedlichsten materialistischen Feminismen anstreben und welche Herausforderungen sie wiederum für die Theoriebildung mit sich bringen. Während marxistische Ansätze sich stärker auf Fragen der Produktion und Reproduktion der Arbeitskraft konzentrierten, versuchten queerfeministische Ansätze Fragen von Begehren, Sexualität und Lebbarkeiten in den Mittelpunkt zu stellen.
An solchen Verknüpfungen soll das geplante Heft ansetzen: Wir interessieren uns vor allem für Beiträge, die danach fragen, wie sich kapitalistische Vergesellschaftung mit Geschlechtlichkeit vermittelt und welche Rolle Sexualität, Begehren, Heteronormativität und (veränderte) Formen des Zusammenlebens hierbei spielen. Eng damit verbunden sind Fragen nach immateriell-affektiver Arbeit und generell Fragen nach der Rolle von Affekten innerhalb der Kapitalisierung des Lebens. Weiterhin stellen sich unter Aspekten der Bioökonomie für eine materialistisch-feministische Analyse, Fragen nach der gesellschaftlichen Generativität, nach (veränderten) familiären Zusammenhängen und Körperlichkeit sowie, damit vermittelt, nach Verschiebungen in den Geschlechterverhältnissen und ihrer Verwobenheit mit Kapitalismus.
Durch Entwicklungen wie Leihmutterschaft, Eizellen- und Samenspende werden veränderte Formen familiärer Zusammenhänge möglich und werden zugleich neue Fragen nach der ‚Notwendigkeit‘ von Familie für die Reproduktion von Gesellschaft aufgeworfen: So könnte die Formel der ‚Familie als Keimzelle des Kapitalismus‘ durch diese Entwicklungen obsolet werden, oder zumindest die Frage aufwerfen, welche Aspekte von ‚Familie‘ für die Funktionsweise kapitalistischer Verhältnisse relevant sind.
Veränderungen in den Geschlechterverhältnissen deuten sich ebenfalls im Zusammenhang mit (neueren) Entwicklungen in der Robotik und künstlichen Intelligenz an. Die Vorstellung, dass Putzmaschinen einen Teil der klassisch reproduktiven Tätigkeiten übernehmen, bis hin zu der Idee, dass auch Sorgetätigkeiten ersetzt werden könnten, schafft ein neues Bild von ‚Care‘ und verspricht, die Zuspitzungen und Widersprüche in diesem Bereich über Technisierungen lösen zu können. Vor diesem Hintergrund empfinden wir es als zentral, das Konzept Materialismus selbst zum Gegenstand der Auseinandersetzung zu machen und verschiedenste Konzepte auch in Bezug auf Materie zu debattieren. Das bedeutet u.a. auch die feministischen Dimensionen des New Materialisms – einer Theorie, die nach den Grenzen des Diskursiven fragt und eine sogenannte ‚Re-Ontologisierung der Materie’ anstrebt –auf ihren kritischen Gehalt hin zu überprüfen.
Wir suchen Beiträge, die den Zusammenhang von Kapitalismusanalyse und Gender diskutieren sowie (mögliche) Verschiebungen in den Geschlechterverhältnissen gesellschaftstheoretisch einordnen und als Entwicklungen innerhalb einer gesamtgesellschaftlichen Analyse thematisieren. Wir würden uns freuen, wenn dabei auch poststrukturalistische und dekonstruktivistische Impulse aufgenommen und nach produktiven Verbindungen gesucht würde, z.B. nach der eines ‚queer-materialistischen Feminismus‘.
Folgende Fragen könnten in diesem Zusammenhang für das geplante Heft interessant sein:
• Wie ist die ‚relative Autonomie‘, Eigenständigkeit und Eigenlogik von Geschlechterverhältnissen zu denken? Worin liegen die Widerspruchsdynamiken und die Konflikte? Wo und wie sind krisenhafte Entwicklungen denkbar und wie können die Verknüpfungen und Zusammenhänge von kapitalistischer Produktionsweise und Geschlechterverhältnissen theoretisiert werden? Wie artikuliert sich eine kapitalistischpatriarchale Gesellschaftsformation und wie können (mögliche) Krisendynamiken entstehen?
• Die Trennung von Produktion und Reproduktion stellt eine zentrale Dynamik in der Herstellung hierarchischer Geschlechterverhältnisse dar. Wie kann der Bereich der Reproduktion als Bestandteil des gesamtgesellschaftlichen Zusammenhangs genauer konzipiert werden und welche Funktion und Rolle spielt er darin? Wie kann vor diesem Hintergrund die Debatte um die ‚Krise der Reproduktion‘ oder die ‚Krise der Care-Ökonomie‘ eingebettet werden? Worin wird das Krisenhafte gesehen und inwiefern stellt es eine Krisendynamik dar, die den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang betrifft?
• Wie kann die Kritik am weißen Feminismus zu einem Bestandteil eines kritischen materialistischen Feminismus werden? Können sich feministische Erkenntnisse vor kapitalistischer Vereinnahmung und Umdeutung wappnen, indem sie die in der Kritik am weißen Feminismus formulierten sozialen Ungleichheiten in die Theoriebildung integrieren? Wie muss ein materialistischer Feminismus vor dem Hintergrund eines globalisierenden Neoliberalismus und einer damit verbundenen neokolonialistischen Aneignung reformuliert werden und wie können hierfür auch die Erkenntnisse der postkolonialen Kritik fruchtbar gemacht werden?
• Können Entwicklungen wie Leihmutterschaft, Samen- und Eizellenspende als veränderte Bedingungen gesellschaftlicher Reproduktion sowie Möglichkeiten des (familiären) Zusammenlebens verstanden und somit als Verschiebungen in den Geschlechterverhältnissen beschrieben werden? Für wen und auf welcher Grundlage finden hier Veränderungen statt? Und welche Bedeutung haben sie gesamtgesellschaftlich: als Funktionsverlust von ‚Familie‘ oder deren Rekonfiguration? Wie betten sich diese Entwicklungen (möglicherweise auch) in die veränderten Arbeitsanforderungen ein, die Flexibilität und Planbarkeit familiärer Konstellationen einfordern?
• Inwiefern betten sich Technisierungen und Standartisierungen reproduktiver Tätigkeiten in eine Entwicklungsrichtung ein, die nicht nach Herrschaftsverhältnissen und sozialen Ungleichheiten fragt, sondern Widersprüche technisch zu lösen vorgibt? Liegt hierin dennoch ein emanzipatives Potential?
Die Redaktion lädt zur Einsendung von Exposés von 1-2 Seiten bis zum 01. September 2013 ein. Die fertigen Beiträge für das Heft sollen bis zum 20. Dezember vorliegen und einen Umfang von 48.000 Zeichen (inklusive Leerzeichen, Fußnoten, Literaturverzeichnis) nicht überschreiten.
Zusendungen bitte als doc- oder rtf-Datei an:
redaktion@prokla.de
Julia Dück (juliadueck@web.de)
Andrei Draghici (a.draghici@gmx.de)
Mariana Schütt (marianas@lavabit.com)
Quelle: FEMALE-L@jku.at