Defensio – Monika Ankele: Alltag und Aneignung. Frauen in Psychiatrien um 1900. Selbstzeugnisse aus der Sammlung Prinzhorn, 14.11.2008, Wien

112. Defensio einer Dissertation aus der Studienrichtung Geschichte
Begutachterinnen: Andrea Griesebner und Maria-Christina Lutter
Ort: Lesesaal der Fachbereichsbibliothek für Geschichtswissenschaften, Universität Wien, Dr. Karl Lueger-Ring 1
Zeit: Freitag, 14. November 2008, 14.00
Die Dissertation basiert auf den Selbstzeugnissen und Krankenakten von Patientinnen psychiatrischer Anstalten des deutschen Sprachraums aus der Zeit zwischen 1890 und 1920 und stellt die Frage nach der Bedeutung alltäglicher Praktiken und Handlungsweisen. Die Selbstzeugnisse – seien es Briefe, Zeichnungen, textile Arbeiten, Notizen o. Ä. – kamen (spätestens) in den 1920er Jahren in die heutige Sammlung Prinzhorn. Diese ist nach dem Arzt und Kunsthistoriker Hans Prinzhorn (1886-1933) benannt, der 1919 als Assistent des Klinikleiters Karl Wilmanns nach Heidelberg berufen wurde. An der psychiatrischen Universitätsklinik wurde er mit dem Auftrag betraut, eine bereits bestehende Lehrsammlung zu erweitern, in der unterschiedliche Erzeugnisse von PatientInnen psychiatrischer Anstalten und Kliniken aufbewahrt wurden und als Anschauungsmaterial für Studierende Verwendung fanden. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts lässt sich im Bereich der Psychiatrie ein zunehmendes Interesse an Manifestationen alltäglicher Praktiken und Handlungsweisen psychisch Kranker erkennen: So brachte der Psychiater Fritz Mohr 1906 den Vorschlag, die Zeichnungen von „Geisteskranken“ vermehrt als diagnostisches Hilfsmittel zu nutzen, die Autorin Margarethe Thumm-Kintzel empfahl zur selben Zeit, gesondert auf die Schrift der PatientInnen zu achten und der Psychiater Emil Kraepelin machte in seinem Lehrbuch von 1903 darauf aufmerksam, dass die von den PatientInnen verfassten Texte oft unerwartete Einblicke in das Seelenleben derselben geben können. Aber auch das äußere Erscheinungsbild, Mimik, Gestik, Verhalten der PatientInnen rückten in den Fokus psychiatrischer Beobachtungen, die – verstanden als zentrale naturwissenschaftliche Methode – gegen Ende des 19. Jahrhunderts ihren Beitrag zur Anerkennung der Psychiatrie als Naturwissenschaft leisten sollten. Wie die Beschreibungen in den Krankenakten zeigen, informierten dabei bürgerliche Verhaltensideale, Wahrnehmungsweisen und ästhetische Vorstellungen den Blick der Ärzte.
Im Sinne einer Diskursanalyse werden im ersten Teil der Studie die Krankenakten und Selbstzeugnisse herangezogen, um den „Diskursbruchstücken“ (Foucault) zu folgen, die dem psychiatrischen Blick des ausgehenden 19. Jahrhunderts eingeschrieben sind. Eine praxistheoretische Herangehensweise, für welche die Quellen im zweiten Teil produktiv gemacht werden, ermöglicht es, die Patientinnen als Akteurinnen, als Handelnde und Reagierende in den Mittelpunkt zu rücken und damit ihre Alltagspraktiken und Handlungs¬weisen von einem anderen Blickpunkt aus zu lesen.
Anhand dreier unterschiedlicher psychiatrischer Institutionen wird idealtypisch der Raum nachgezeichnet, der das Tun und Handeln der Patientinnen mitbestimmte, prägte, ermöglichte und beschränkte und der die Frage aufwirft, wie sich die Patientinnen diesen Raum aneigneten. Ihrer gewohnten Umgebung entrissen, blieb ihnen oft nicht viel mehr als ihre Erinnerungen, ihr Wissen, ihre Erfahrungen – die Praktiken, die sie erlernt hatten und die ihnen vertraut waren. Der Blick auf Raumaneignungen, auf Formen der Selbstgestaltung, auf Essverhalten oder Arbeitsgewohnheiten macht deutlich, welcher Stellenwert den Alltagspraktiken nicht nur in der Wahrnehmung der Ärzte zukam, sondern welche Bedeutung dieselben für die Frauen – für die Bewältigung des Bruchs, der mit dem Eintritt in eine Anstalt erfahren wurde, sowie für die Aneignung der vorgefundenen Gegebenheiten – einnehmen konnte. Die geschlechtsspezifische Kodierung von Praktiken, wie sie sich im Zuge der Konstitution des Bürgertums vollzog, offenbart dabei nicht nur ihren disziplinierenden, sondern auch ihren ermöglichenden Charakter, indem Praktiken wie Schreiben, Zeichnen, Handarbeiten – wie die Quellen eindrücklich zeigen – immer auch zu einer Ausweitung des eigenen Handlungsbereiches beitragen können, ein Selbst konstituieren und Kommunikation initiieren.

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