CfP: Das Geschlecht der Anderen. Narrationen und Episteme in Ethnologie, Kriminologie, Psychiatrie und Zoologie des 19. u. 20. Jhd. (Event: Berlin 12/2009); DL: 20.06.2009

DFG-Graduiertenkolleg „Geschlecht als Wissenskategorie“ Berlin

Zeit: 11.-12.12.2009
Ort: Humboldt-Universität zu Berlin
Deadline: 20.06.2009

Ausgangspunkt der Konferenz ist die Beobachtung, dass die Konstitution von Geschlechterpositionen und –metaphern besonders seit dem 19. Jahrhundert an diverse Konstruktionen eines „Anderen“ gebunden ist, das über die Definition und Zuschreibung von Binaritäten wie rational/wahnsinnig, kulturell entwickelt/primitiv, deviant/„normal“ und menschlich/tierisch wirkt. Über diese vergeschlechtlichten Formen des Anderen bildet sich ein Wissen, das sich sowohl in Diskursen der Psychiatrie, der Ethnologie, der Zoologie und der Kriminologie als auch in künstlerischen und literarischen Formen verdichtet.

Es bietet sich an, solche historischen Verdichtungs- und Transferprozesse zwischen wissenschaftlichen Disziplinen interdisziplinär und intersektional zu untersuchen. Die gemeinsame Perspektive bilden die Genderforschung und besonders deren poetologische und narratologische Aspekte. Dabei stellt sich die Frage, wie die angesprochenen Wissensformationen Geschlechtskategorien durch poetische Strukturen reproduzieren. Theoretische Ansätze, die wissenshistorische und ästhetische Forschung kombinieren, haben derzeit Hochkonjunktur und werden zugleich kontrovers diskutiert. Auch in den Gender Studies gibt es Tendenzen, Wissensforschung und Poetologie zusammenzudenken. Vor diesem Hintergrund orientiert sich die Tagung an aktuellen Ansätzen gendertheoretischer Wissensgeschichte und Narratologie sowie Poetologien des Wissens, innerhalb derer die Zirkulation dieser Konfiguration zwischen Kunst und Wissen untersucht werden kann.

Dabei ist zu fragen wie sich die „poetischen“, d.h. im weitesten Sinne darstellungstechnischen Komponenten wissenschaftlichen Wissens und die Produktion von Geschlechterbildern zueinander verhalten. Gibt es einen Transfer von Geschlechtermetaphern zwischen Wissenschaften und Literatur/Künsten? Wie schreiben sich geschlechtlich strukturierte Subjektpositionen und Klassifikationen in die Wissensproduktion ein? Gibt es nicht nur Aussagen, sondern auch Darstellungsformen, die sowohl in wissenschaftlichen wie auch in literarischen und künstlerischen Techniken und Darstellungsformen zum Tragen kommen?

Auf der Tagung soll diese Konfiguration auf ihre Darstellungsformen (z.B. Ausstellung, Fotografie, Reisebericht) und Präsentationstechniken (etwa Hermeneutik, Beobachtung, Metaphorisierung) hin befragt werden: Wie bilden und autorisieren sie den Nexus zwischen Gender und Irren/Fremden/Kriminellen/Tieren? Wie zirkulieren sie zwischen Psychiatrie, Ethnologie und Zoologie einerseits, Wissenschaften und Künsten andererseits? Und gibt es ein Ende dieser Konfiguration? Wirkt sie auch in aktuellen Diskursen fort – etwa in der angeblich geschlechts- und poesiefreien Neuroforschung oder auch in den postcolonial studies, die beanspruchen kulturelle Zuschreibungen zu dekonstruieren?

Neben keynote-Vorträgen sind bisher vier Panels geplant, die sich an den Wissensfeldern der Kriminologie, der Psychiatrie, der Ethnologie und der Zoologie orientieren. Da die Transferprozesse und Interdependenzen zwischen diesen Wissensfeldern und ihren Darstellungsformen im Fokus der Tagung stehen, sind aber ausdrücklich auch Papers willkommen, die sich keinem Panel oder mehreren zuordnen können.

I Sex/Crime: Poetologien von Geschlecht und Verbrechen als Wissenstransfer

Im Zentrum des Panels steht der Transfer zwischen Literaturen und Wissensfeldern, in denen die Kategorien sex und crime produktiv zusammenwirken. Verbrechen, Sexualität und Geschlecht gehen in den Wissensbeständen des 19. und 20. Jahrhunderts vielfältige Korrelate ein und referieren besonders um 1900 innerhalb des Kriminalitäts- und Literaturdiskurses verstärkt aufeinander. Bis in die Gegenwart schreibt sich eine Poetologie der geschlechtlich codierten Kriminologie in Literatur, Film und Publizistik ein. Der historische wie der aktuelle Diskurs über VerbrecherInnen wird in Kunst- und Wissensfeldern rückgebunden an geschlechtlich motivierte Zuschreibungen. Darüber hinaus werden als kriminell klassifizierte Handlungen in Verbindung mit der Kategorie der Devianz erzählt und stehen so in Korrespondenz mit anderen Wissensfeldern: dem der Ethnologie (VerbrecherInnen und das Fremde), der Zoologie (bestialische Konnotierung) und der Psychiatrie (Pathologisierung von VerbrecherInnen). Aus diesen Vorüberlegungen ergeben sich drei Fragestellungen: Wie werden VerbrecherInnen mit dem Fokus auf ihre Geschlechtlichkeit als Wissensobjekte der Diskurse hervorgebracht? Welche Darstellungsformen für die Korrelation von Geschlecht und Verbrechen wirken intersektional/transdisziplinär zwischen Kunst- und Wissensdiskursen (Wissen über Kriminalität und Geschlecht)? Welche Funktion übernimmt dabei die Klassifikation von VerbrecherInnen als deviant im Sinne von fremd/bestialisch/krank?

II Ethnologien der Geschlechter

In diesem Panel stehen vergeschlechtlichte Wissensproduktionen im postkolonialen Kontext im Mittelpunkt. Vor dem Hintergrund seit der europäischen Kolonisation tradierter implizit vergeschlechtlichter und rassisierter Bilder des kolonisierten „Anderen“ soll von verschiedenen Ebenen und disziplinären Zugängen aus ein postkolonialer, kritisch-weißer und kritisch-okzidentalistischer Blick auf Repräsentationen und Narrationen geworfen werden, in denen sich diese Bilder fortschreiben (z.B. Geschlecht und Nation, vergeschlechtlichte und rassisierte Repräsentationen von Ländern/Regionen/Nationen/Kulturen, Ausstellungspraktiken). Diese finden sich häufig an der Schnittstelle zu kriminologischen, psychiatrischen oder biologisch-zoologischen Diskursen (etwa Naturalisierungsmetapher kolonialisierter Regionen wie z.B. bei Humboldt, Narrationen von Gewalt, Mafia, Prostitution, Drogen- und Waffenhandel, Korruption). Ein besonderes Augenmerk soll auch auf Theorien aus den ehemaligen spanischen Kolonien (Mittel- und Südamerika) liegen, die im postkolonialen Diskurs bisher wenig Beachtung fanden.

III Poetischer Wahn

Ende des 19. Jahrhunderts wurde im „westlichen“ Kontext psychiatrischer Wissensproduktion eine Konfiguration wirkmächtig, in der Künste bzw. KünstlerInnen und Wahnsinn als eng miteinander verbunden erschienen. Einerseits wurde der Wahn zur Voraussetzung künstlerischer Produktion erklärt und psychiatrisches Wissen fand Eingang in die Kunsttheorie, andererseits wurden die Künste zu Voraussetzungen psychiatrischen – und keinesfalls nur psychoanalytischen – Wissens: Denn dieses bezog sich immer häufiger auf ästhetische Produkte und benutzte selbst ästhetische Techniken zur Wissensproduktion über den „Wahnsinn“. Zugleich wurden Konzeptionen kranker Seelen – etwa bei Ernst Kretschmer oder Emil Kraepelin – mit Bildern anderer Kulturen und nicht-menschlicher Populationen analogisiert, die psychiatrischen Kategorisierungsweisen orientierten sich (etwa bei Auguste Forel und Emil Kraepelin) an der Zoologie und psychiatrische Theoreme verbanden sich mit ethnographischen Forschungen. Wahnsinn korreliert also mit weiteren Formen der Devianz wie ‚Rasse’, Geschlecht und Bestialität.
Eine interessante Frage aus heutiger Perspektive ist, ob diese okzidentalistische Konjunktur pathologischer Poetiken und poetischer Pathologien, die in hohem Maße vergeschlechtlichende Züge aufweist, sich seit der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts – z.B. durch die Frauen- und die Antipsychiatriebewegung sowie die neue Dominanz neurologischer Ansätze in der Psychiatrie und inzwischen z.T. auch in der Literatur/-wissenschaft – auflöst oder transformiert. Im Hinblick darauf sollen die historischen Darstellungsformen und -techniken künstlerischer Produkte und wissenschaftlichen Wissens über den Wahn und die ihnen immanenten Geschlechterkonstruktionen rekonstruiert und die Überschneidungen mit weiteren Wissensfeldern aufgezeigt werden.

IV Animalities: Queere Tiere

Im Zuge der Industrialisierung und der Urbanisierung im 19. Jahrhundert wurden Tiere einerseits mehr und mehr aus dem Alltagsleben verdrängt, während sie andererseits in Zoos, Tiershows und Museen zunehmend zur Schau gestellt wurden. Entsprechend werden Tiere – die seit der Antike die imaginären Welten bevölkern – in Edgar Allen Poes Black Cat von 1843, Hermann Melvilles Moby Dick von 1851 oder auch später in Merian Coopers King-Kong-Film aus dem Jahr 1933 in ganz neue Figurationen gefasst. Wie unterschiedlich Tiere auch in naturwissenschaftlichen Diskursen imaginiert wurden, zeigt der historische Konflikt zwischen Brehms Anthropomorphismus und Darwins Evolutionstheorie. Die im 21. Jahrhundert an US-Amerikanischen Universitäten etablierten, transdisziplinär und transnational ausgerichteten Critical Animal Studies knüpfen an die Tradition des Anthropomorphismus an, während sie jedoch zugleich Figurationen von Tieren in einen macht- und herrschaftskritischen Bezug zu anderen Differenz und Hierarchie stiftenden Kategorien wie etwa Gender, Race, Class, Sexuality und Nation setzen. Mit diesen neuen Ansätzen rufen die Critical Animal Studies einen Paradigmenwechsel in der postmodernen kulturwissenschaftlichen Beschäftigung mit Tieren aus, der – nicht zuletzt auch beeinflusst durch die Theorien zur Performativität – tierkörperliche Präsenzen und nicht die Konstruktionen des Tierkörpers in den Mittelpunkt stellen, wie das etwa noch in der Moderne der Fall war. Das Panel wird unter Rückgriff auf die Methoden der Critical Animal Studies verschiedene Figurationen von Tieren in ganz unterschiedlichen kulturellen Kontexten (z.B. Geisteswissenschaften, Zoologie, Psychiatrie, Medizin, Showbusiness, Tier- und Freakshow) in den Blick nehmen und vor allem nach den vergeschlechtlichten Wissensformen dieser Figurationen fragen.

Interessierte Wissenschaftler_innen und Nachwuchswissenschaftler_innen sind herzlich dazu eingeladen ein abstract einzureichen.
Dieses soll max. 3000 Zeichen enthalten und durch einen kurzen CV (höchstens eine Seite) sowie Angaben zu benötigtem technschem Equipment ergänzt werden. Die Vorträge können auf Deutsch und Englisch gehalten werden und sollten ca. 20-30 Minuten dauern.
Die abstracts sind bis zum 20.6.2009 an folgende Adresse zu richten: poetologie-tagung#gmx.de. Entscheidungen bezüglich des Calls werden bis zum 15.7. 2009 mitgeteilt. Anreise- und Übernachtungskosten können i.A. anteilig erstattet werden. Wir freuen uns auf ihre Ideen und Ausarbeitungen!

Kontakt:

Florian Kappeler
Graduiertenkolleg „Geschlecht als Wissenskategorie“
Sophienstr. 22a, 10178 Berlin
poetologie-tagung#gmx.de
http://www2.hu-berlin.de/gkgeschlecht/aktuell.php

URL zur Zitation dieses Beitrages: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=11280

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