Der Erste Weltkrieg in Selbstzeugnissen – Auszüge aus Beständen der Sammlung Frauennachlässe Nr. 40: Tagebuch von Julie Söllner, 25. April 1915, Wien

NL 52 Tagebuch Julie Soellner 1915 04 25Julie Söllner (geb. Karlupus, geb. 1874) lebte in gutbürgerlichen Wiener Verhältnissen. Sie war als Lehrerin ausgebildet, ihr Ehemann war als Rechtsanwalt tätig, das Paar hatte drei Kinder. Im März 1915 hatte damit begonnen, ein Tagebuch zu führen. Als Anlass, mit dem Schreiben zu beginnen, benannte Julie Söllner ihren 40. Geburtstag. In ihren nur über zwei Monate geführten Aufzeichnungen beschrieb sie darin die Situation ihres persönlichen Umfelds und hielt Informationen über Entwicklungen im Wiener Stadtleben ebenso fest wie politische Ereignisse – die sie zumeist „vom Hörensagen“ wußte.

25./IV. Seit ich das letzte Mal geschrieben habe, weiß man, daß demnächst die 18jährigen (das sind die, die im Laufe des heurigen Jahres 18 werden) und die 42-50jährigen einberufen werden. Da kommen Toni [Ehemann der Schreiberin] und Paul [?] auch dran. Das wäre natürlich für uns eine viel tiefer einschneidende Sache als alles, was sich bisher ereignet hat. Es ist ja fast ausgeschlossen, daß Toni in eine gefährdete Stellung käme, aber bei uns spielt ja das Finanzielle auch eine große Rolle. Nun wir werden ja sehen. Die Brotkarte ist eingeführt worden und Leute, die wie wir reichlich anderes essen, haben mit der Brotkarte reichlich ihr Auskommen; für die anderen, die sich die teuren anderen Sachen nicht verschaffen können, hat man vorläufig durch Aufstellen von Kartoffelöfen mit billigen Kartoffeln eine leichte Abhilfe zu finden gesucht. Die Leute essen natürlich von dem jetzigen, schlechten Brot viel weniger als sonst, aber nähren müssen sie sich doch.

Heute habe ich gehört, daß eine andere Wasserversorgung eingerichtet wird, für den Fall als uns die Hochquellenleitung gesperrt werden sollte (ein Filtrierwerk). Das geht wohl in erster Linie gegen unsere „treuen Verbündeten“ die Katzelmacher [Italien]. Es ist ja auch ein armer Staat, der wie der unsere so vielerlei Nationalitäten in sich vereinigt. Scheußlicher noch als das Schießen der Feinde aufeinander, ist das Niederknallen ganzer meuternder Regimenter – wie es bei uns wiederholt vorgekommen sein soll. Erst vor kurzem 4,000 Mann eines Prager Regimentes. Scheußlich ist es, wenn man sich denkt, die Leute müssen gegen ihren Willen in den Kampf, scheußlich, daß sie so gegen ihr Vaterland gegen Österreich sind und für Russland und am entsetzlichsten, daß man sich da nur durch Massenmord helfen kann.

Wenn nur das Morden schon ein Ende hätte, heute wurde gemunkelt, daß ein Erzherzog in [Tebschen?] Friedensunterhandlungen mit den Russen führe, auch der Statthalter von Tirol soll mit Italien verhandeln. Wie wird es mit unserem Österreich werden, geht die Sache für uns gut aus und kommt es nicht zu einen faulen Frieden, dann werden unsere Kinder viel, viel bessere Patrioten werden als wir, sie werden stolz auf ihr Vaterland sein und fester anf sein Fortbestehen glauben als wir. Wie es in dem entgegengesetzten Fall kommt, wer kann es wissen.

Momentan steht es nicht schlecht, die Russen kommen nicht vorwärts, aber sie haben einen großen Teil Galiziens und mit Waffengewalt werden wir es kaum zurückgewinnen; in Serbien-Montenegro ist seit unserem großen Mißerfolg vollkommene Ruhe; gegen Italien ist man fortwährend auf der Lauer. In Belgien-Frankreich seit Monaten nur geringe Veränderungen.

Sammlung Frauennachlässe NL 52
Ende der kurzen Aufzeichnungen, daher kein weiterer Eintrag von Juli Söllner.
Voriger Eintrag von Juli Söllner am 8. April 2014

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Zitation dieses Beitrages: Der Erste Weltkrieg in Selbstzeugnissen – Auszüge aus Beständen der Sammlung Frauennachlässe Nr. 40, Tagebuch von Julie Söllner, 25. April 1914, SFN NL 52, unter: URL