Julie Söllner (geb. 1874) lebte in gut situierten bürgerlichen Verhältnissen in Wien. Sie war mit einem Rechtsanwalt verheiratet und Mutter von drei Kindern. Das von ihr vorliegende Tagebuch umfasst drei Einträge von März und April 1915. Mit ihren Aufzeichnungen wollte die 40jährige die aktuelle Situation dokumentieren. Der erste, ausführliche Eintrag war hauptsächlich eine Retrospektive auf die vergangenen Monate. Im April 1915 berichtet Julie Söllner nun u.a. von Verteidigungs-Maßnahmen, die in der Stadt Wien getroffen worden sein sollen.
8/IV. Jetzt hört man wieder nur gutes von unseren Truppen in den Karpathen und dort müssen sie sich gelegentlich etwas zurückziehen. Ich selbst habe von den Verteidigungsmaßnahmen für Wien kaum etwas gesehen, da ich nicht aus der Stadt herauskomme, aber jeder erzählt von den Schützengräben, Stacheldrähten, Verbauen etc., die überall vorbereitet werden. Aber darum darf doch niemand von unseren Feinden oder auch sogenannten Verbündeten hierherkommen! Ich bin täglich meinem Schöpfer dankbar, daß Karl [der Sohn der Schreiberin] erst 12 Jahre alt ist, er wäre dabei mittun zu dürfen, aber ich wäre wirklich keine Heldenmutter.
Die große Zeit lastet auf allen wie ein Alb, man wäre so froh wieder in das eintönige Einerlei früherer Zeiten, wo einem die Nichtigkeiten des Lebens interessierten zurückzukehren. Wie sonderbar mutet es uns doch an, wenn Männer anfangen über die verschiedenen Mehl- und Brotsorten zu dozieren, jetzt ist Mais- oder Roggenbrot den meisten wichtiger als Schiller und Goethe.
Es hat sich ja doch alles so geändert, wer hätte, das vor einem Jahr für möglich gehalten, daß vernünftige Menschen zu Tausenden, nein zu Millionen übereinander herfallen werden und sich morden; Menschen die einander nie gesehen, nie beleidigt haben. Da gehen sie überall fort die jüngsten, gesündesten! Und wie viele kehren als Krüppel oder auch gar nicht mehr zurück. Die Mütter, die Frauen, die Kinder alle leiden darunter und frohlocken [wenn die] anderen weinen und leiden und die Freude im feindlichen Land verbreitet Trauer bei uns. O Jammer und kein Ende zu sehen und von dem Ende, das noch am ehesten abzusehen wäre, muß man sich ja mit Entsetzten abkehren, denn wir haben Recht.
Wie können England und Russland, das freieste und das geknechteste Land das Gleiche anstreben, diese Verbindung ist für mich so unfaßbar und widersinnig, daß ich in ihr unsere Rettung sehe. Ein schönes, junges Deutschland und uns dem Zarenreich opfern, einzig und allein aus Neid ist das möglich, und wenn Russland so große Freundschaft für England hegt, warum ahmt es ihm nicht nach, warum bedrückt es seine Untertanen?
Scheußlich ist es auch, daß man sich gewöhnt an den Krieg; es ist ja nicht schwer, wenn niemand, der einem nahe steht, gefährdet ist, wenn man sich mit seinen Kindern abends im warmen weichen Bett niederlegt um am Morgen ein warmes Frühstück, wenn auch ohne Weizensemmel, zu nehmen. Seinen Gewohnheiten nachgeht, vielleicht sich im Geist etwas mehr mit der Zusammenstellung des Speisezettels und mit der Art und Weise eines möglichst gesunden Einkaufes beschäftigt. Die Preise sind ja tatsächlich enorm gestiegen. [Preistafeln für Lebensmitteln und die Wiener Straßenbahnen eingeklebt.]
Sammlung Frauennachlässe NL 52
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Die zeitgenössische Orthographie wurde beibehalten. Die Verwendung der Namen der Schreiber/innen und ihrer Familien folgt den vertraglichen Vereinbarungen der Sammlung Frauennachlässe mit den Übergeber/innen. In den Dokumenten genannte Namen dritter Personen werden aus Datenschutzgründen anonymisiert.
- Zu den Aufzeichnungen von Julie Söllner siehe auch http://ww1.habsburger.net/de/
Zitation dieses Beitrages: Der Erste Weltkrieg in Selbstzeugnissen – Auszüge aus Beständen der Sammlung Frauennachlässe Nr. 37, Tagebuch von Julie Söllner, 8. April 1914, SFN NL 52, unter: URL