Statement Luisa Passerini [dt.]

IST EINE EUROPÄISCHE FRAUENGESCHICHTE MÖGLICH?

Beitrag zur Podiumsdiskussion am vierten nationalen Kongress der Società italiana delle storiche

Luisa Passerini

Ich halte die Wahl dieses Themas für diese Podiumsdiskussion „Ist eine europäische Frauengeschichte möglich?“ zu Beginn des Jahres, das die Europäische Kommission zum „Jahr der Chancengleichheit für alle“ erklärt hat, für sehr angebracht. Wenn man mit Chancengleichheit nicht nur die Frauen meint, sondern auch all jene, denen heute in Europa nicht gleiche Rechte zugestanden werden, von den Homosexuellen bis zu den MigrantInnen, wird die Bedeutung der Kämpfe der Frauen – nicht nur für sie selbst sondern auch für andere – offensichtlich. In diesem Sinne verstehe ich Frauen nicht als vorrangiges Subjekt, wie früher die Arbeiterklasse als Subjekt erster Kategorie in Bezug auf die sozialen und politischen Veränderungen verstanden wurde, wobei alle anderen Subjekte bloß als Verbündete galten. Ganz im Gegenteil glaube ich, dass die Frauen dazu beigetragen haben, einen Prozess des Einforderns von Rechten in Gang zu setzen, der auf einen neuen Universalismus zusteuert, keinen abstrakten und formalen Universalismus, der den Körper in Klammern setzt, sondern in einen potentiell konkreten Universalismus, der Gleichheit und Differenz als verkörperten Subjekten (oder mit Subjektivität ausgestatteten Körpern) inhärente Eigenschaften denkt. Und ich denke auch, dass die Frauen – zusammen mit anderen – in der ersten Reihe im Kampf um die so definierten Rechte stehen.
Dazu gehört nicht nur das Recht, eine Geschichte zu haben, sondern auch das Recht die bisher geschriebene Geschichte umzuschreiben. In diesem Zusammenhang erscheint mir der Beitrag, den eine europäische Perspektive in der Frauengeschichte leisten kann, dringend notwendig. Mit „europäischer Perspektive“ meine ich nicht, dass jene, die sich mit Frauengeschichte befassen (ob Frauen oder Männer), sich unbedingt mit Europa beschäftigen müssen, sondern, dass sie eine Position einnehmen, der dringlichen Problemen Rechnung trägt. Vor diesem Horizont tauchen als wichtige Themen auf: die Migration, die interkulturellen Beziehungen, der Postkolonialismus. Ein europäischer Blick muss sich mit dem Geflecht von in Europa gelebten und von Europa aufgezwungenen Trennungen und Ausschlüssen in der Vergangenheit auseinander. Daher geht es nicht nur darum, sich die Erweiterung der Europäischen Union in Richtung Mittel- und Osteuropa bewusst zu machen, sondern sich vor Augen zu halten, dass Europa viel größer ist als die Europäische Union. Das wird von einer kulturellen und historischen Ebene aus gesehen immer so sein, wenn wir uns von einer rein territorialen Vorstellung von Europa verabschieden und die Aufforderung zur Ent-Territorialisierung ernst nehmen, die von mehreren Seiten an uns herangetragen wird – von der Theorie (auch der feministischen Theorie: Braidotti, Ivekovic, Varikas) und von den Migrantinnen mit ihren Erfahrungen. Eine europäische Dimension, die Farbige und Weiße vollberechtigt aufnimmt, den Islam wie das Judentum, den Laizismus genauso wie die Religionen – das sind weitere Themen, die die Frauen berühren.
Vor dem Hintergrund dieser Einleitung möchte ich nun von zwei Forschungsprojekten ausgehen, die ich in den vergangenen Jahren durchgeführt habe, um die eine oder andere Antwort auf die von den Organisatorinnen dieser Podiumsdiskussion, Angiolina Arru und Edith Saurer (denen ich für die Anregungen danke) gestellten Fragen zu geben. Sie haben uns gebeten, den Blick in die Zukunft zu richten, und genau das braucht es angesichts der Tatsache, dass sich Europa in Umbau befindet, und dieser Prozess auf mehreren Ebenen zum Stillstand gekommen ist, in Hinblick auf die Verabschiedung der Europäischen Verfassung ebenso wie hinsichtlich der vollen Anerkennung der Länder übergreifenden Rechte. Es handelt sich dabei um eine vornehmlich historische Aufgabenstellung, gerade weil sie in Richtung Zukunft weist, ist Geschichte doch mit nichts anderem als der Beziehung zwischen verschiedenen Zeitebenen befasst, darunter die Vergangenheit und die Gegenwart: Nur wenn der Blick in die Zukunft gerichtet ist, werden deren Erfordernisse erkennbar, die in der Gegenwart bereits angelegt sind. Die Vergangenheit entsteht durch den Bezug auf konkrete Forschungen, weil sich die Geschichtswissenschaft richtigerweise nicht mit allgemeinen Aussagen begnügt, sondern nach empirischen Forschungen auf Basis von Quellenmaterial und spezifischen Methoden verlangt.
Ein Forschungsprojekt, das versucht hat, den Blick für die Zukunft zu schärfen, haben wir in den Jahren 2001 bis 2004 mit fünf europäischen Universitäten (Utrecht, Kopenhagen, Sofia und Budapest, koordiniert von der Europäischen Universität Florenz) unternommen, und zwar zu den Migrantinnen aus Bulgarien und Ungarn, die vorwiegend, aber nicht nur, nach 1989 nach Italien und in die Niederlanden eingewandert sind. Die Ergebnisse dieser in Kürze auf Englisch erscheinenden Forschungen basieren vorwiegend auf mündliche Quellen. Es wurden nicht nur Migrantinnen interviewt, sondern auch ‚einheimische’ Frauen der beiden Zielländer, die interkulturelle Kontakte gepflegt hatten. Hier haben wir bereits einen Hinweis auf eine Forschungspraxis die direkt von der Frauengeschichte kommt: die Betonung der Intersubjektivität. Das erscheint mir einer der umfassendsten Aspekte der feministischen Theorie zu sein und auch der historischen Frauenforschung in den vergangenen 20 Jahren: Die Überzeugung, dass die Konstituierung der Subjektivität, ein Thema, das so wichtig war für unsere Bewegungen und Untersuchungen, nicht ohne die Anerkennung und den Austausch mit anderen erfolgen kann – also das, was ich den Primat der Intersubjektivität nenne. Ich denke, dass die europäische Geschichte der Frauen im Zeichen der Intersubjektivität stehen muss.
Was verstehe ich darunter? Nicht nur das, was ich bereits in Hinblick auf die Beziehungen zwischen Frauen aus Fleisch und Blut gesagt habe, sondern ich verstehe darunter auch jene wechselseitigen Vorstellungen – der Frauen aus dem Westen über die Frauen aus dem Osten und der Frauen aus dem Osten über die Frauen aus dem Westen –, die stark stereotypisiert und oft von einem männlichen Blick geprägt sind. Das betrifft nicht nur die Beziehungen zwischen Ost und West, sondern ganz generell das Gefälle zwischen den einzelnen europäischen Regionen: in erster Linie zwischen dem Süden und dem Norden, aber auch die Klassifizierung von Ländern als Zentrum oder Peripherie Europas. Wir brauchen einen historisch-kritischen Umgang mit den wechselseitigen, innereuropäischen Wahrnehmungen; das ist eine essentialistische Tradition, die in zahlreichen subjektiven Quellen zum Ausdruck kommt wie zum Beispiel in Interviews, aber auch in Filmen – auch wenn sie manchmal scherzhaft eingesetzt wird. Im Kino löst oft eine Fremde eine Beziehungskrise unter Personen aus, die aus ein- und demselben Land kommen. Bezüglich der verschiedenen europäischen Räume und der in der Vergangenheit zwischen diesen aufgebauten Hierarchien, möchte ich noch anfügen, dass die mit den Frauen für das genannte Forschungsprojekt durchgeführten Interviews sehr interessante Hinweise dazu liefern. Die Bulgarinnen und Ungarinnen korrigierten uns jedes Mal, wenn wir sie als Frauen aus Osteuropa ansprachen, mit dem Hinweis, sie gehörten zu Zentraleuropa. Sie erklärten, dass ihre Länder eine wichtige Rolle in Europa spielten, auch Bulgarien, das zu diesem Zeitpunkt noch nicht Teil der Europäischen Union war. Die kulturelle und metaphorische Bedeutung dieses Insistierens – das sicher nicht nur geographische Bezüge hat – scheint mir auf der Hand zu liegen, ebenso die damit verbundene Einladung, den eigenen Standort zu verschieben, die Sichtweise des Gegenüber stärker zu berücksichtigen, den europäischen Raum in einer zeitgemäßen und in die Zukunft weisenden Form neu zu denken. Die Migrantinnen ent-territorialisieren und territorialisieren den Kontinent auf zweifache Weise neu, im materiellen und kulturellen Sinn mit ihrem Kommen und Gehen und mit ihrer eigenen Form von Subjektivität und Weltsicht.
Es ist nicht so, dass ich die Gefahren eines Zusammenschlusses der europäischen Frauen nach dem Zeitalter der nationalistischen Kriege und nach dem Kalten Krieg nicht sehe. Die interviewten Frauen haben es selbst gesagt, sowohl die Migrantinnen als auch die Ansässigen, als sie ihre (kurze) gegenseitige Anerkennung mit der tief greifenden Verschiedenartigkeit verglichen, die sie gegenüber islamischen, nicht-weißen und amerikanischen Frauen empfinden. Hier werden Hautfarbe und Religionszugehörigkeit als wunde Punkte jener Intersubjektivität und jenes transkulturellen Dialogs sichtbar, zu deren Aufbau und Entwicklung die europäische Frauengeschichte beitragen muss. Hier kommt auch die Notwendigkeit eines postkolonialen Überdenkens ins Spiel, das heißt die Anerkennung, dass Europa – je nach Nation unterschiedlich –, das Erbe des Kolonialismus zu tragen hat, dem es sich bis heute nicht wirklich gestellt hat. Damit meine ich nicht, dass sich die gesamte Geschichtsschreibung auf die Migrationen konzentrieren soll oder auf den Postkolonialismus – als Forschungsgegenstand und nicht als allgemeines Bewusstsein, an dem sich der historische Zugang orientiert. Vielmehr denke ich, dass einige der bisher angesprochenen Aspekte, Leitideen für eine Frauengeschichte sein sollten, um eine europäische Perspektive einnehmen zu können. Frauengeschichte wird hier – wie ich gleich ausführen werde –in einem weiten Sinn verstanden.
Tatsächlich denke ich keinesfalls, und damit beantworte ich eine weitere Frage von Angiolina Arru und Edith Saurer, dass eine europäische Frauengeschichte bestimmte Themen bevorzugen sollte oder bestimmte Methoden, weder quantitative noch qualitative, weder so genannte subjektive Quellen noch andere historische Quellen. Ich denke auch nicht, dass sie um jeden Preis vergleichend vorgehen muss, und schon gar nicht, dass sie alle europäischen Länder einbeziehen muss. Weiters denke ich nicht, dass Frauengeschichte, wie ich und viele andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sie immer verstanden haben, unbedingt von Frauen und nur von Frauen handeln muss. Ich denke vielmehr, dass auch eine Mikrogeschichte – als Geschichte eines Ortes oder eines Individuums auch männlichen Geschlechts –, aus einer europäischen Perspektive geschrieben werden kann und gleichzeitig Teil einer europäischen Frauengeschichte sein kann, die ich als Geschlechtergeschichte verstehe, das heißt, als Geschichte der Geschlechterbeziehungen. Um diesen Aspekt zu erläutern, möchte ich ein anderes Forschungsprojekt als Beispiel anführen, an dem ich selbst gearbeitet habe und dessen Ergebnisse ebenfalls bald gedruckt vorliegen werden. Es handelt sich um die Weiterführung und den Abschluss meiner Forschungen zum Thema Liebe und Europa. Ich habe versucht, den Mythos zu dekonstruieren, der besagt, dass die EuropäerInnen die höfische und romantische Liebe erfunden und sie in der Folge allen anderen Kulturen vermittelt hätten. Ich werde hier nicht den Inhalt ausführen, sondern die Methode, die ich in der Darstellung verwendet habe. Das Forschungsprojekt befasst sich mit Frankreich und Italien von den späten 1920er bis zu den 1940er Jahren und besteht aus case studies: Zwei davon sind Einzelpersonen gewidmet (beides europäisch gesinnte Männer), eine weitere Studie befasst sich mit einem Buch, das eine Mischform aus Essay und Literatur ist, und eine weitere mit einer Gruppe von vornehmlich französischen Intellektuellen. Die fünfte Studie handelt von der Rezeption eines jüdischen Theaterstückes und die sechste von einem jüdischen italienisch-deutschen Paar.
Mit diesen Themen habe ich versucht zweierlei zu erreichen – den Blickwinkel der Frauengeschichte einzubringen und gleichzeitig eine europäische Perspektive einzunehmen und zwar auf unterschiedliche Weise: Im Fall der beiden Anhänger des Europagedankens habe ich den sie umgebenden Frauen die größtmögliche Aufmerksamkeit geschenkt – und zwar nicht nur den Müttern, den Ehefrauen, Schwestern und Töchtern, der Blutsverwandtschaft, sondern auch den Gesprächspartnerinnen oder den intellektuellen Widersacherinnen. Vor allem aber wollte ich jene Aspekte ihres Sprechens über Europa herausstreichen, die Formen von Männlichkeit und Bedürfnisse nach Weiblichkeit zum Ausdruck brachten, die weibliche Seite hervorheben, die diese Männer lebten. Im Fall der Rezeption von Texten und der Gruppe von Intellektuellen habe ich nicht nur versucht, den Geschlechteraspekt zu analysieren, sondern auch die Art ihres Umgangs mit der europäischen Kultur in Verbindung mit zwei anderen Kulturen, der islamischen und der jüdischen. Das hat selbstredend eurozentrische Positionen ans Licht gebracht, die an Formen von männlichem Chauvinismus geknüpft waren, auch von Seiten der Frauen. Zugleich aber habe ich versucht zu zeigen, dass sie einen Dialog aufbauen wollten, einen Austausch mit der islamischen und der jüdischen Kultur gerade vor dem Hintergrund der Überwindung der Krise der späten 1930er Jahre und eines zukünftigen anderen Europas. Es wäre viel zu einfach, diese Persönlichkeiten aus aktueller Sicht des Eurozentrismus zu bezichtigen, und sich auf simple Kritik oder gar eine Verurteilung zu beschränken, denn in ihrem Eurozentrismus oder wohlgesinnten Kolonialismus fanden sich Spuren von Menschlichkeit, die die Zukunft vorwegnahmen, Formen menschlicher Solidarität, die die Grenze der traditionellen Art und Weise Europäer zu sein und zu Europa zu gehören, überschritten. Im Fall des Paares schließlich war es einfach, der Frau einen wichtigen Platz einzuräumen, obwohl vom umfangreichen Schriftverkehr zwischen den beiden – wie es oft der Fall ist – vor allem die Briefe des Mannes erhalten geblieben sind. Sie war der starke Part, sie hat mutig die Herausforderung des Exils in Bolivien angenommen, um den Rassengesetzen zu entgehen und hat ihren Mann, einen deutschen Juden, mit ihrer Kraft in einem äußerst schweren Leben unterstützt.
Es steht mir nicht zu, zu beurteilen, inwieweit ich meinen Anspruch damit eingelöst habe. Ich möchte aber hervorheben, dass diese Arbeit dem Thema Europa zweifellos sehr nahe kommen ist, zu Beginn aber weit ab von der Frauengeschichte zu stehen schienen. Ich beharre jedoch darauf, dass sie zu diesem Forschungsbereich gehört, weil ich ihn für viel mehr halte als für einen einfachen Forschungsbereich: Für mich ist die Frauengeschichte ein Zugang zur historischen Disziplin, der in die gesamte Historiographie einführt – in die gesamte – mit ihren Themen, ihren Gegenständen, ihren konzeptionellen Kategorien. Damit will ich keineswegs andere spezifische Ausprägungen der europäischen Frauengeschichte negieren, wie sie etwa Gisela Bock auf sehr interessante Weise durchgespielt hat. In zweifachem Sinn, einen spezifischen und einen weiten, ist die europäische Frauengeschichte aus meiner Sicht nicht nur möglich, sondern wünschenswert und notwendig.
Abschließend noch einige Überlegungen: Ich beobachte, dass die Kategorie Geschlecht immer häufiger in einem Zug mit den anderen Kategorien genannt wird, die es ermöglichen den „farbigen Körper“ zu denken, wie Generation, Alter (was nicht dasselbe ist) und „Rasse“ im kulturellen, nicht im biologischen Sinn. Ich erinnere daran, dass gerade feministische Wissenschaftlerinnen auch in Europa das Thema whiteness aufgegriffen haben – Philosophinnen, Politik-, und Literaturwissenschaftlerinnen. Aber auch Historikerinnen haben Weißsein thematisiert. Um nur ein Beispiel, aber ein glänzendes zu nennen: Catherine Hall hat mit ihrem Buch „Civilising Subjects“ dem Verhältnis von Metropole und Kolonie, respektive von Großbritannien und Jamaika, der Vorstellungswelt und der kolonialen Erfahrung des 19. Jahrhunderts nachgespürt. In der Einleitung stellt sie sich genau dem Problem, wie wir heute Europa denken können und wie wir EuropäerInnen sein können.
Ich möchte schließen, indem ich meiner Überzeugung Ausdruck verleihe – und die Anzeichen sprechen dafür –, dass jene Kategorien, die in Bezug zu den mit Subjektivität ausgestatteten Körpern stehen, gemeinsam mit Intersubjektivität, Postkolonialismus und Transkulturalität dazu beitragen werden, die Versprechen, die die Geschichte der vergangenen Jahrhunderte und jene jüngeren Datums gemacht hat, einzulösen, nämlich das Versprechen eines Europa der gleichen Rechte und der Chancengleichheit.
Dieser Beitrag wird auch in „Genesis. Rivista della Società Italiana delle Storiche“ veröffentlicht.

Schreibe einen Kommentar