Defensio: Li Gerhalter: Tagebücher als Quellen. Diaristische Aufzeichnungen als Forschungs- und Sammlungsgegenstände in den Sozialwissenschaften bis in die 1930er-Jahre und in den Geschichtswissenschaften ab den 1980er-Jahren, 03.11.2017, Wien

440. Defensio aus der Studienrichtung Geschichte
Zeit: Fr., 03.11.2017, 15:00 Uhr
Ort: Lesesaal der FB Geschichtswissenschaften, Universitätsring 1, 1010 Wien
Im ersten Teil der Dissertation stellt Li Gerhalter vor, wie, von wem und auf welche Weise diaristische Aufzeichnungen in den Sozialwissenschaften in Österreich und Deutschland bis in die 1930er-Jahre beforscht und gesammelt wurden. Diese Frage wird exemplarisch anhand 1) von Studien zum Thema Erwerbsarbeiten von Frauen, 2) von wissenschaftsgeleiteten Elterntagebüchern sowie 3) von Forschungsschwerpunkten in der Jugendpsychologie untersucht. Dazu wird der jeweilige Kontext skizziert, in dem etwa die Forschungen von Wilhelm Preyer, Clara und William Stern, Olga und David Katz, Fritz Giese, Charlotte Bühler oder Siegfried Bernfeld entstanden sind. Thematisiert werden dabei auch die Handlungsspielräume von Frauen als Forscherinnen zu Beginn des 20. Jhds.
Bühler und Bernfeld haben in der Zwischenkriegszeit auch jeweils eine Sammlung von Jugendtagebüchern und anderen Selbstzeugnissen aufgebaut, die detailliert beschrieben werden. Beide Sammlungen gingen in der Zeit des NS verloren, und auch die tagebuchbasierte Forschung erfuhr einen Bruch.
Im zweiten Teil der Dissertation wird nachgezeichnet, wie diaristische Aufzeichnungen im Rahmen der damals neuen Fragestellungen seit den 1980er-Jahren als wissenschaftliche Quellen für die Geschichts- und Kulturwissenschaften verwendet wurden und werden. Die Vorstellung der zahlreichen Sammlungen und Archive, die seit damals in Österreich und Deutschland entstanden sind, erfolgt anhand von drei Typisierungsvorschlägen. Es wird weiters nach den möglichen Motiven und Absichten gefragt, die jene Personen verfolgen, die Selbstzeugnisse an Sammeleinrichtungen übergeben. Erörtert werden auch die sozialen und geschlechterspezifischen Zusammensetzungen der dokumentierten Quellen. Mit dem Fokus auf Tagebücher von Frauen und Mädchen wird schließlich der Bestand vorgestellt, der derzeit in fünf ausgewählten Sammlungen und Archiven in Wien zur Verfügung steht.
Abschließend werden kulturwissenschaftliche Lesarten der diaristischen Quellen formuliert. Am Beispiel des diaristischen Schreibens von Mädchen in der ersten Hälfte des 20. Jhds. werden dabei mögliche Formen, Anlässe und Funktionen untersucht.