Defensio: Jessica Richter: Die Produktion besonderer Arbeitskräfte. Auseinandersetzungen um den häuslichen Dienst in Österreich (Ende des 19. Jahrhunderts bis 1938), 06.11.2017, Wien

441. Defensio einer Dissertation aus der Studienrichtung Geschichte
Zeit: Mo., 06.11.2017, 12:30 Uhr
Ort: Institut für Wirtschafts- u. Sozialgeschichte, Kommunikationsraum, Universtitätsring 1, 1010 Wien
Was wir heute unter Beruf und Erwerbsarbeit verstehen, ist historisch relativ jung. Ihre Entstehung ist in Europa und den USA eng mit der Entwicklung des Sozialstaats und der Einführung neuer arbeitsrechtlicher Regelungen seit dem Ende des 19. Jhds. verbunden. Zwar blieb umstritten, was Arbeit sein und wie sie organisiert sein sollte, aber kontinuierliche, außerhäusliche, gelernte und hoch formalisierte Berufserwerbsarbeit wurde immer mehr als Referenz und Maßstab für alle anderen Lebensunterhalte durchgesetzt. Ihre Etablierung als legitimster Lebensunterhalt veränderte auch alle anderen Weisen, sich ein Auskommen zu organisieren. Während manche Lebensunterhalte (vollständig oder in Teilen) der Berufserwerbsarbeit angepasst wurden, wurden andere Lebensunterhalte mehr und mehr aus dem Spektrum dessen ausgeschlossen, was offiziell als richtige Arbeit gelten konnte. Die Geschichte der Arbeit ist die Geschichte dieser Auseinandersetzungen und damit auch eine Geschichte jener anderen Lebensunterhalte, gegen die Berufserwerbsarbeit als legitimste Arbeit durchgesetzt wurde.
Einer dieser anderen Lebensunterhalte war der häusliche Dienst. Er bestand kaum als berufliche Erwerbsarbeit, allein schon, weil bei ihm Wohn- und Arbeitsort zusammenfielen. Jessica Richter untersucht in ihrer Dissertation, wie
er in den Auseinandersetzungen um Arbeit in Relation zu anderen Diensten und Lebensunterhalten definiert, organisiert und praktiziert wurde. Denn obwohl die Dienstverhältnisse von häuslichen DienstbotInnen und Hausgehilfinnen bereits breit erforscht wurden, steht eine konsequente Untersuchung dieser Geschichte im obigen Sinn noch aus.
Noch in den 1930er Jahren war der Dienst im fremden Haushalt die wichtigste Erwerbstätigkeit von Frauen. Deren Zugang zu anderen Einkommensmöglichkeiten war im Vergleich zu Männern begrenzter. Was der Dienst aber sein, wie er definiert und organisiert werden sollte, war um die Jahrhundertwende und bis in die Zwischenkriegszeit hoch umstritten gewesen. Waren Hausgehilfinnen untergeordnete Haushaltsmitglieder, Teil der Familie oder Lohnarbeiterinnen? Die Auseinandersetzungen darum, auch in Form von Debatten, führten in den 1920er Jahren zu einigen Gesetzesänderungen, durch die Hausgehilfinnen zum ersten Mal einigen Errungenschaften der ArbeiterInnenbewegung zugutekamen. Gleichzeitig blieben die neuen Gesetze in vielerlei Hinsicht ambivalent und wurden nur zum Teil umgesetzt. Auch einige Grundsatzentscheidungen des Verwaltungsgerichtshofs führten dazu, dass Hausgehilfinnen immer klarer als besondere (anstatt als reguläre) Arbeitskräfte bestimmt wurden.
Wie sich der häusliche Dienst veränderte, lässt sich anhand der Gesetzesänderungen allein aber kaum untersuchen. Die neuen Gesetze waren ja selbst vorläufiges Ergebnis der fortgesetzten Auseinandersetzungen um den häuslichen Dienst, zu denen nicht nur PolitikerInnen, Behörden und staatliche Einrichtungen, sondern auch Interessen- und Wohltätigkeitsorganisationen, alle DienstgeberInnen und alle Hausgehilfinnen selbst beitrugen. Letztere praktizierten den Dienst auf ganz unterschiedliche Weisen. Im Einklang mit den Zielen der sozialdemokratischen Gewerkschaft nahmen sich manche berufsarbeitliche Standards zum Maßstab für ihre Dienstverhältnisse, obwohl sie weiterhin mit ihren DienstgeberInnen unter einem Dach lebten. Die Dienstverhältnisse anderer Hausgehilfinnen waren hingegen nicht nur von Berufserwerbsarbeit weit entfernt, sondern enthielten auch keine Familienintegration. Diese Stellen waren von Instabilität, Mangel an Regulierung und große Unterschiede zwischen den Haushalten geprägt. In meiner Dissertation untersuche ich diese Auseinandersetzungen und die vielfältigen Praktiken im Überblick wie im Detail, indem ich einen heterogenen Quellenkorpus u.a. aus Selbstzeugnissen, politischen Publikationen, offiziellen Dokumenten oder populärer Literatur einem systematischen Vergleich unterziehe.
Online verfügbare Publikation von Jessica Richter zum Thema: Zwischen Treue und Gefährdung? Arbeitssuche, Stellenvermittlung und Stellenwechsel von Hausgehilfinnen in Österreich (1918-1938). Production of Work – Working Paper Nr. 2/2009. (Link)