Tagung: ATONAL. Über (Un)Vereinbarkeiten in der feministischen Geschichte, Theorie und Praxis, 20.01.2024, Berlin und virtueller Raum

Kollektiv „Zwischen Institution und Utopie“ (PDF)

Zeit: 20.01.2024, 19.00 Uhr
Ort: Museum des Kapitalismus, Berlin – und virtueller Raum

Das Geschlechterverhältnis besteht bis heute als ein Herrschaftsverhältnis. So kämpfen Feminist:innen weltweit nach wie vor gegen Geschlechterungleichheit und -ungerechtigkeit sowie für Gleichstellung, Zugang und Teilhabe. Wenn es aber um die Verständigung darüber geht, wie sich herrschaftlicher Strukturen zu entledigen sei, stoßen wir in der feministischen Geschichte, Theorie und Praxis auf Uneinigkeit darüber, welche Mittel und Wege das feministische Projekt an ihr Ziel bringen könnten. So scheiden sich die Geister bis heute an den Begriffen der Gleichheit und Differenz, am Verständnis des Subjekts, der Notwendigkeit einer materialistischen Klassenanalyse und Kapitalismuskritik, Fragen der Identität sowie Erfahrung und den komplizenhaften Verstrickungen in das neoliberale Geschlechterregime. Wir wollen darüber diskutieren, inwieweit Unvereinbares in Einklang gebracht werden kann und wir uns auch darauf vereinen können, uneinig zu sein, ohne unser Ziel vor Augen zu verlieren.

Programm (PDF)

  • Ute Gerhard: Gleichheit und Differenz. Eine transhistorische Konfliktlinie im feministischen Widerstreit
  • Friederike Beier: Materialistischer Queer-Feminismus. Zur Aktualität und Produktivität des Konflikts zwischen Identität und Klasse
  • Barbara Grubner: Warum die Verteidigung des Unverfügbaren ein feministisches Anliegen ist

Ute Gerhard: Gleichheit und Differenz. Eine transhistorische Konfliktlinie im feministischen Widerstreit
Gestützt auf meine Arbeiten zu ‚Verhältnissen und Verhinderungen‘ von Frauen im 19. Jhd. bis zu den theoretischen und politischen Überlegungen zu ‚Care‘, dem feministischen Konzept fürsorglicher Praxis, das sowohl die Arbeits- und Lebensverhältnisse als auch die heteronormative Geschlechterordnung revolutionieren könnte, begrüße ich das Vorhaben, über die Produktivität inner-feministischen Widerstreits nachzudenken.
Im Rückblick auf die neuzeitliche Geschichte des Feminismus möchte ich anhand der Kontroversen um Gleichheit und/oder Differenz die Konfliktlinien zwischen den verschiedenen Feminismen zweier Jahrhunderte nachzeichnen: Gleichheit hierbei verstanden als dynamischer und relationaler Rechtsbegriff, der vorrangig auf die Verbesserung materieller Bedingungen, materiale Gerechtigkeit zielt, und Differenz, die sich auf Autonomie, die Freiheit zum Anderssein und Identität beruft. Mein Plädoyer für Gleichheit in der Differenz versucht, Missverständnisse zu klären und auch in der gegenwärtigen Debatte um Queer und einen materialistischen Feminismus zukunftsfähige Strategien zu diskutieren.

Ute Gerhard, Professorin für Soziologie mit dem Schwerpunkt Geschlechterforschung, seit 2004 emeritiert. Mitbegründerin des Cornelia Goethe Centrums für Geschlechterstudien an der Goethe Univ. Frankfurt. Forschungsschwerpunkte: Geschichte und Theorie des Feminismus, Europäische Sozialpolitik und Recht. Veröffentlichung 2018: „Für eine andere Gerechtigkeit. Dimensionen feministischer Rechtskritik“, Frankfurt/New York.

Friederike Beier: Materialistischer Queer-Feminismus – Zur Aktualität und Produktivität des Konflikts zwischen Identität und Klasse
Queer-theoretische und materialistische feministische Theorien und Praktiken werden einander meist als unvereinbar gegenübergesellt. Dabei wird der oft propagierte Widerspruch zwischen Identitäts- und Klassenpolitik reproduziert. Ein Blick in die Geschichte des materialistischen Feminismus zeigt jedoch wie konstruktivistisch und heteronormativitätskritisch die Anfänge eines materialistischen Feminismus waren. Der materialistische Feminismus wurde in Frankreich durch Christine Delphy und Monique Wittig begründet, die sich dadurch von einem deterministischen marxistischen und sozialistischen Feminismus abgrenzen. Sie verwenden die marxsche Methode des historischen Materialismus, um zu zeigen, dass nicht nur Klasse, sondern auch Geschlecht historisch, ökonomisch und sozial konstruiert ist. Sie sprechen sich weiterhin für die Entwicklung eines feministischen Standpunktes aus, um androzentristische Theorien zu dekonstruieren und die Grundlagen ihrer Wissensproduktion zu entlarven. Daran knüpft Judith Butler mit der Ausarbeitung einer queer-theoretischen Wissenschaftskritik an.
Insgesamt zeigt sich durch eine Genealogie des materialistischen Feminismus die Anschlusspunkte eines materialistischen und queer-theoretischen Feminismus. Dabei zeigt sich auch die Produktivität eines feministischen Konfliktes, der es vermag die queer-feministische Theoriebildung weiterzubringen, die nicht nur Geschlechterbinarität und Heteronormativität kritisiert, sondern auch dessen hierarchische, strukturelle und ökonomische Verfasstheit theoretisieren kann. Der Vortrag geht daher auf die Konfliktlinien eines materialistischen und queer-theoretischen Feminismus ein, um daraufhin die Produktivität des Konflikts sowie Verknüpfungen, Überschneidungen und Konvergenzen aufzuzeigen.

Friederike Beier ist Teil der universitären feministischen Wissensproduktion. Nebenher gibt sie beim unrast-Verlag Bücher zu den Theorien und Kämpfen der Sozialen Reproduktion heraus sowie zum materialistischen Queer-Feminismus (2018 und 2023). Sie engagagiert sich in Theorie und Praxis für die Überwindung des Cis-Hetero-Patriarchat im Kapitalismus und setzt sich für eine Verbindung von materialistischen und queer-feministischen Denkweisen ein. Sie denkt gerne und viel darüber nach aus wie eine klassen- und geschlechtslose Gesellschaft aussehen könnte und wie wir dahin kommen.

Barbara Grubner: Warum die Verteidigung des Unverfügbaren ein feministisches Anliegen ist
In der gegenwärtigen feministischen Forschung gibt es eine erfreuliche Rückkehr der Gesellschaftstheorie, die sich um eine Neubestimmung des Verhältnisses von Kapitalismus und Geschlechterhierarchie bemüht. Jedoch schränkt das dabei vorrangig zum Einsatz kommende gender- bzw. queertheoretische Geschlechterverständnis die Schlagkraft und Reichweite dieser Rückkehr bedeutend ein. Dies wird besonders deutlich, wenn es um die Verelendung der Sorgeverhältnisse geht, bei der eine feministische Gesellschaftskritik heute aus meiner Sicht ansetzen muss. So kann etwa der Fokus auf die Kritik von Zweigeschlechtlichkeit und Heteronormativität den geschlechterideologischen Mechanismus nicht einfangen, der Subjekte heute in die gegebene Ordnung einbindet. Er verstellt eher das Verständnis der widersprüchlichen Geschlechterverhältnisse, die westlich-kapitalistische Gesellschaften heute prägen. Demgegenüber bietet das Subjekt- und Geschlechterverständnis des aktuellen Denkens der sexuellen Differenz, das von der Macht- und Ideologietheorie der strukturalen Psychoanalyse inspiriert ist, einen vielversprechenden Ansatzpunkt, um eine fruchtbare Verknüpfung mit marxistisch-materialistischen Perspektiven herzustellen.

Barbara Grubner hat an der Univ. Wien Kultur- und Sozialanthropologie studiert und zum Thema „Gabe und Geschlecht“ promoviert. Sie war in sozialwissenschaftlichen Forschungs- und Evaluationsprojekten und in der Gleichstellungsarbeit tätig und von 2012-2017 wissenschaftliche Geschäftsführerin im Zentrum für Gender Studies und feministische Zukunftsforschung der Philipps-Univ. Marburg (Hessen). Danach wissenschaftliche Mitarbeiterin in Drittmittelprojekten zu den Themen Antifeminismus, Rassismus und Post-Politik in Marburg und Wien. Derzeit ist sie Lehrbeauftragte an der Univ. Wien und Kandidatin im Linzer Arbeitskreis für Psychoanalyse.

Quelle: Female-l