Fachbereich für Geschichte der Universität Salzburg (Web); Institut für Österreichische Geschichtsforschung Wien (Web)
Zeit: 01.-03.10.2009
Ort: Hörsaal des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Hauptuniversität
Programm-Folder (PDF), Programm auch weiter unten
Erving Goffmans soziologisches Konzept der Totalen Institution (Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt/M. 1973, zuerst New York 1961) hat auch für die Untersuchung der Geschichte von Institutionen der Einschließung (Hospitäler, psychiatrische Heilanstalten, Zuchthäuser, Strafanstalten, Gefängnisse …) eine große Rolle gespielt. Zwar war seine Rezeption in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft zurückhaltender als etwa in Frankreich oder im angelsächsischen Raum. Dennoch aber sind die Grundzüge seiner Perspektive auf die inneren Verhältnisse in Institutionen der Weltabsonderung, Verwahrung, Einsperrung oder Internierung auch von deutschen Historiker/innen aufgenommen worden – nicht zuletzt, weil Goffman die Gültigkeit seiner Analyse auch für historische Institutionen wie Klöster, Kasernen oder Internierungs- und Konzentrationslager behauptete.
Goffman verstand Totale Institutionen als radikale Gegenpole zur Gesellschaft, die für ihn ein sozialer Raum spontaner Selbstverwirklichung war. Er schilderte sie als künstliche Gegen-Welten, die von unselbständigen Insassen bevölkert werden, die durch Mauern, Zäune und Tore völlig vom Rest der Gesellschaft abgesondert sind. Ihr Leben, so Goffman, ist kümmerlich, weil es allein von den vorgegebenen Vollzugsregeln der Institution organisiert wird. Totale Institutionen rauben ihren Insassen daher jede Fähigkeit zur selbst bestimmten Handlung – was sich auch im Verhältnis zwischen Insassen und Anstaltspersonal widerspiegelt. Zwischen beiden Gruppen sah Goffman eine strenge Scheidelinie eingezogen, die für ihn in «verschiedene soziale und kulturelle Welten» (19f.) mündete. Bestimmt wurde das Zusammenleben von Insassen und Personal in Totalen Institutionen für ihn also von Konfrontationen, Erniedrigungen, radikalen Reduzierungen von Handlungsoptionen auf Seiten der Insassen und einer feindlichen Haltung und Gegnerschaft zwischen ihnen und dem Personal.
Anliegen der Tagung ist es, diese Sichtweise des Zusammenlebens im institutionellen Kontext zu überprüfen und zu hinterfragen. Goffmans Analyse liegt die Vorstellung zugrunde, Insassen und Personal bildeten jeweils homogene soziale Gruppen. War dem wirklich so?
Zu fragen ist erstens nach den sozialen Milieus, aus denen die Menschen, die in einer Anstalt lebten, entstammten (beim Personal auch nach der Rekrutierungspraxis oder dem Ausbildungsweg). Ein genauerer Blick darauf erlaubte, sich klarer zu machen, wie Welt von den verschiedenen in der Einschließung lebenden Akteuren wahrgenommen und gedeutet wurde und an welchen soziokultureller Logiken sich diese Wahrnehmungen, Deutungen, aber auch das aus ihnen folgende Handeln bemaß.
Ein zweiter Fragekomplex betrifft das Miteinander im Anstaltskontext: Wie waren die Aufgaben in der Anstalt verteilt? Bestand zwischen Insassen und Personal tatsächlich eine strenge Scheidelinie oder überschritt das Leben von Insassen und Personal – wie dies einige Arbeiten zur Geschichte der frühmodernen Zuchthäuser vermuten lassen – nicht immer wieder klare soziale und funktionale Rollenzuschreibungen, etwa indem Insassen zu Tätigkeiten herangezogen wurden, die sich mit denen des Personals überschnitten, sodass sich letztlich nicht einmal immer präzise zwischen beiden Kategorien unterscheiden ließe? Waren, überspitzt formuliert, die Insassen also das Personal totaler Institutionen?
In den Blick zu nehmen sind drittens auch die räumlichen Strukturen der verschiedenen Anstalten und ihre Schaffung bzw. Verfestigung durch das Handeln der Akteure. Dabei geht es nicht nur um die räumliche Konstituierung institutioneller Ordnungsarrangements (also Grundrisse, Raumnutzungskonzepte etwa beim Garten, Ausstattungsdifferenzen von Räumlichkeiten usw.), sondern auch um den Umgang, die Aneignung, die Zurückweisung oder Umfunktionierung dieser Räume durch Personal und Insassen.
Schließlich wird viertens auch danach gefragt, ob das Bild einer permanenten Konfrontation zwischen Insassen und Personal der historischen Realität entspricht. Waren die Handlungsräume von Insassen und Personal tatsächlich derartig getrennt, wie es Goffman unterstellte? Oder lassen sich nicht vielmehr zahlreiche Verflechtungen, Abhängigkeiten und Interdependenzen feststellen, wie sie eher dem Bild entsprechen, das Norbert Elias vom Zusammenleben im institutionellen Kontext gezeichnet hat?
Konzeptionell wären einer Analyse der sozialen Beziehungen zwischen Insassen und Personal in den Institutionen der Einschließung (und natürlich ihrem historischen Wandel) weitere Frage zugrunde zu legen: Ist der Rahmen des Handelns in der Anstalt mit traditionellen Konzepten von Disziplinierung, Herrschaft und Normdurchsetzung adäquat erfasst? Oder muss nicht eine relationale Konzeption von Macht zugrunde gelegt werden, wie sie Elias und auch Michel Foucault vorgeschlagen haben? Macht wurde von ihnen als jeder sozialen Beziehung inhärent angesehen und nicht als eine Frage des Besitzes aufgefasst. Sie manifestiert sich in menschlichen Interaktions- und Kommunikationsprozessen und begründet bewegliche Ensembles von Kräfteverhältnissen, die zwar oftmals asymmetrisch sind, niemals jedoch alle Machtchancen allein auf einer Seite konzentrieren. Waren die Institutionen der Einschließung also nur Orte der Konfrontation, des Zwangs und der Unterdrückung oder von vernetzten Akteuren belebte Felder sozialen Handelns, auf denen unterschiedliche Machtansprüche artikuliert und durch die Aktivierung ungleich verteilter materieller, sozialer und symbolischer Ressourcen in Geltung gesetzt und verstetigt wurden?
Schließlich sollte der Blick nicht nur auf das gerichtet werden, was Insassen und Personal trennte, sondern auch auf das, was sie miteinander verband : Möglichkeiten der Aushandlung und des Transfers in sozialen Beziehungsgeflechten, in denen sich Menschen orientieren mussten, um ihre Handlungsoptionen auszuleuchten und schließlich zu realisieren. Zu fragen wäre deshalb auch nach eigensinnigen Aneignungen oder Transformationen von Regeln und Strukturen sowohl auf Seiten der Insassen wie des Personals, nach der Aktivierung institutioneller Ressourcen, nach der Rolle von Akzeptanz für das geordnete Zusammenleben oder nach geteilten Werten und Identitäten.
Die Tagung lädt dazu ein, am Beispiel ganz unterschiedlicher Institutionen der Einschließung (Klöster, Hospitäler, Zuchthäuser, Gefängnisse …) über diese Fragen nachzudenken und sie gemeinsam zu diskutieren.
Weitere Rückfragen
- Falk Bretschneider, Centre de recherches interdisciplinaires sur l’Allemagne (UMR 8131 EHESS/CNRS), bretschn#ehess.fr
- Martin Scheutz, Institut für Österreichische Geschichtsforschung/Institut für Geschichte der Universität Wien, martin.scheutz#univie.ac.at
- Alfred Stefan Weiß, Fachbereich für Geschichte der Universität Salzburg, Alfred.Weiss#sbg.ac.at
Programm
1. Oktober 2009
13.00–14.30: Eröffnung und Einführung
Falk BRETSCHNEIDER, Martin SCHEUTZ, Alfred S. WEISS (unter Mitarbeit von Christine Schneider): Personal und Insassen von Totalen Institutionen zwischen Konfrontation und Verflechtung (Einführung)
Carlos WATZKA: „Totale Institutionen“ – Mythen und Erkenntnisse in und über den psychiatriesoziologischen Klassiker ‚Asyle’ von Erving Goffmann
14.30–18.00: Sektion 1: Die Welt der Lager und der Armee
Vorsitz: Falk Bretschneider
Claudia NICKEL, Reale und symbolische Räume: Wechselbeziehungen von Raum und Individuum in südfranzösischen Lagern (ab 1939)
Kiran Klaus PATEL, „Auslese“ und „Ausmerze“. Das Janusgesicht der nationalsozialistischen Lager, 1933-1945.
- (Pause 16.00–16.30)
Veronika SPRINGMANN, Sport im Konzentrationslager – konfrontative Verflechtung?
2. Oktober
9.00–12.30: Sektion 2: Zuchthäuser und Strafanstalten
Vorsitz: Maria Heidegger
Emmanuel DECOUARD/Sybille KERSHNER, Strafen und Arbeiten – Die Strafkolonie in Mettray
Herbert REINKE, 1968er, Gefängnisse und Heime – Insassen und Personal
- (Pause 10.30–11.00)
Falk BRETSCHNEIDER, Gefangene Gesellschaft – soziale Verflechtung und soziale Ungleichheit im Zuchthaus des 18. Jahrhunderts
14.30–18.00: Sektion 3: Anstaltsgeistliche als Transmissionsriemen zwischen Personal und Insassen?
Vorsitz: Martin Scheutz
Désirée SCHAUZ, Die ambivalente Rolle von Geistlichen in Gefängnissen. Zur Komplexität Totaler Institutionen im langen 19. Jahrhundert
Maria HEIDEGGER, Handlungsräume und Positionen katholischer Anstaltsgeistlicher innerhalb der „k.k. Provinzial-Irrenanstalt“ Hall in Tirol (1830–1870)
- (Pause 16.00–16.30)
Gerhard AMMERER, Der Pädagoge Vinzenz Eduard Milde und der Wiener Zuchthausgeistliche Philipp Jakob Münnich – Theoretische und praktische Gedanken zur pastoralen Betreuung von Gefangenen im frühen 19. Jahrhundert
Alfred Stefan WEISS, Der Hospitalgeistliche und seine (normierte) ´Beziehung` zu den Insassen in der Frühen Neuzeit
Anschließend: Exkursion „Narrenturm“ (für Tagungsteilnehmer), Beginn 18.30; Pathologisch Anatomisches Bundesmuseum, Spitalgasse 2, 13. Hof, Uni-Campus, A–1090 Wien
3. Oktober
9.00–12.30: Fortsetzung Sektion 2
Gerhard SÄLTER, Konfliktfelder zwischen Personal und Insassen am Beispiel Bautzen II
Sektion 4: Klöster, Hospitäler, psychiatrische Anstalten
Vorsitz: Gerhard Ammerer
Martin SCHEUTZ, Verschriftlichte Ordnungen – Personal und Insassen in Spitälern
- (Pause 10.30–11.00)
Christine SCHNEIDER, Beziehungen und Schwierigkeiten zwischen Klosterschwestern und ihren Oberinnen
Ute STRÖBELE, Auseinandersetzung/Absetzung „unliebsamer“ Klostervorsteherinnen oder konventsinterne Konflikte um angebliche „Verschwendung“ klösterlicher Wirtschaftsressourcen durch „Missmanagement“
12.30–13.30 Schlussdiskussion
Kontakt:
Für organisatorische Fragen:
Stefanie Gruber
Institut für Österreichische Geschichtsforschung
Dr. Karl Lueger Ring 1
A-1010 Wien
Tel: 42 77 / 27 203
stefanie.gruber@univie.ac.at
URL: https://www.univie.ac.at/Geschichtsforschung/