Der Erste Weltkrieg in Selbstzeugnissen – Auszüge aus Beständen der Sammlung Frauennachlässe Nr. 88: Tagebuch von Anna H., 21. November bis 2. Dezember 1916, Graz

1916-11-21Anna H. (geb. 1903) war 13 Jahre alt, als sie im Herbst 1916 begann, ein Tagebuch zu führen. Sie beschrieb darin zum Großteil und zumeist ausführlich Entwicklungen an den Fronten, die sie (vermutlich) aus Zeitungen übernommen hat. Im November 1916 schilderte sie nun ebenso detaillreich die Ereignisse nach dem Tod von Kaiser Franz Joseph I., worüber sie (wahrscheinlich) wiederum aus den Medien informiert war. Ihr soziales Umfeld war gutbürgerlich situiert, die Eltern führten einen Gasthof in der steirischen Landeshauptstadt Graz, Anna H. besuchte eine klösterliche Privatschule.

21. November.
In der Walachei [historische Region Rumäniens] kämpfen die verbündeten Truppen. Die schlugen die Rumänen bei Targujiu [Târgu Jiu] unter Verlusten zurük. Gesamtbeute in der Walachei ist: 19.527 Gefangene, 26 Geschütze, 17 Munitionswagen und 72 Maschinengewehre. Es sind also an allen Fronten (manch) kleinere od. größere Erfolge zu verzeichnen. Hoffentlich kommt bald der langersehnte Friede mit dem vollständigem Sieg. Wir müssen nur auf Gott vertraun.

22. November.
Ach! Jetzt haben wir unseren guten, edlen KAISER + FRANZ JOSEF I. verloren. Und zwar hat er am 21. November 1916 im Schloß Schönbrunn um 9h abends sein tatkräftiges Leben beendet. 86 Jahre hat er hier gelebt. Mit 18 Jahren hat er den Thron bestiegen und 68 Jahre hatte er den Thron Österreichs inne. Kaiser Franz Josef war geboren am 18. August 1840 zu Schloß Schönbrunn b. Wien. Sein Namenstag fiel auf d. 4. Oktober. Am 2. […] Dezember 1848 bestieg er in Olmütz [Olomouc] den Thron. In schwerer Kriegszeit bestieg er den Thron, in noch schwerer Kriegszeit starb er. (…)

(…)

30. November.
Der Kaiser Karl I. [Erzherzog Carl Franz Joseph Ludwig Hubert Georg Otto Maria von Österreich, als Karl I., Nachfolger von Franz Joseph I.] hat folgenden Armee und Flottenbefehl erlassen: Ich will, daß mein erstgeborener, Mir durch Gottes Gnade geschenkter Sohn [Otto, geb. 1912] von nun an Meiner braven heldenmütigen Wehrmacht angehört, und nenne ihn zum Oberstinhaber Meines Infanterie-Regiments No17, welches von nun an den Namen „Kronprinz“ zu führen hat. So ist also der kleine 4jährige Franz Josef Otto schon Oberstinhaber eines Infanterieregiments. Außerdem hat d. Kaiser d. Erzh. Friedrich [Herzog von Teschen und Feldmarschall], den Oberkommandanten aller militärischen Armeen, das Großkreuz d. Maria Theresienordens /./. Auch ist Freiherr von Conrad [vermutlich: Franz Conrad von Hötzendorf] zum Feldmarschall ernannt worden.

21. Dezember
Gestern, am 30. OKTOBER ist Kaiser Franz Josef zu Grabe getragen worden. Ein[e] gar traurige Sache. Alle Schüler hatten frei, und eine Ansprache wurde gehalten und (In der Marienkirch[e] war gestern Tra) feierliche Trauermessen wurden gelesen. In der Marienkirche war d. Marienschule und Keplerschule bei d. Trauermesse versammelt. Zuerst hielt ein Priester von d. Kanzel aus eine Ansprache und dann wurde die Messe feierlich gelesen. Vorn stand die Tumba [Hochgrab] welche ganz von Blumen und Blattpflanzen eingeschlossen war. Auch brannten etliche 30 Kerzen. Das Kaiserbildnis war von ein[em] schwarzen Schleier umgeben und ebenso die Krone. Die Beisetzung d. verewigten Kaisers fand zwischen 2 und 4 Uhr statt. In dieser Zeit waren alle Geschäfte gesperrt (Graz) und alle Laternen brannten auch war so ein eintöniges grau am Tage. Schon seit dem Todestage des Kaisers hängen lange, schwarze Fahnen von d. meisten Häusern d. Stadt. Unsäglich traurig erscheint die Stadt. In Wien fand die Beisetzung auf folgender Weise statt: In der Hofburg [Kaiser/innen-Residenz in der Wiener Innenstadt] stand der Sarg Kaiser Franz Josef I. Schon in den letzten Tagen war d. Ton d. großen Stadt gedämpft, die langen Trauerfahnen, die fast an allen Häuser wiederwallten, die manigfachen Zeichen der Trauer, die die Bevölkerung angelegt hatte, vervollständigten das Bild des Schmerzes u. Tausende u. aber Tausende wollten zum Kaisersarg, um Abschied zu nehmen. Eine Minute vor 2 h erklangen vom äußeren Burgtor Komandorufe. Wenige Augenblicke später wurde eines d. ergreifendsten Klangbilder gegeben. In das Geläute d. Kirchenglocken mengte sich d. feierlich[e] Rhythmus d. Generalmarsches, aber nicht schmetternd und froh wie sonst, sondern gleichsam sordiert, so dass d. erzeugten gedämpften Töne im Wind wie ein zager Klageruf über d. Tor hinaus auf die weite Straße geweht wurden. Draußen aber harrte eine unübersehbare Menge. Sie erfaßte sofort d. tragische Bedeutung d. militärischen Signalrufes. Nun kommt mit einem Male Leben i.d. fast geschlossenen Massen, deren Gesichter bisher in starer Spannung dem Burghof zugewendet hatten. Er bemächtigte sich ihrer Erschütterung.

2. Dezember.
Die Avantgarde [als militärischer Begriff „Vorgarde“ oder „Vorwache“] hatte die Ringstraße [Prachtstraße in Wien] erreicht. Der kaiserliche Herr hatte sein Haus für immer verlassen. Die letzte Ausfahrt, Wer sähe sie unbewegt? – –
Der Kondukt [Trauerzug] schiebt sich langsam vorwärts und entrollt den Zuschauer. Jeder füllt d. Widerspruchsvolle in d. gradiosen Szenenbild. Ringsum d. Leben unter dem allesbeherrschenden Symbol d. Trauer, nach außen hebt sich doppelt stark d. Pracht d. Paläste. Es ruhte eine feierliche Stille über d. Waffen, und selbst d. aufschlagende Schritt d. Pferde ist gemessen. Aus d. Ferne kommt leis d. gedämpft geblasene Generalmarsch. Überall, wo d. kais. Leichenwagen in Sicht kommt, wogt ein Gefühlsschauer durch d. Massen. Am Schwarzenberg u. Aspernplatz [aktuell: Julius-Raab-Platz] harren ungezählte Tausende. Gegen 3 h erreicht d. kais. Trauerzug d. Stephansdom. Die altehrwürdige Kirche prangt in Trau{er}schmuck. D. hohen Kirchenpfeiler sind mit schwarzen Tuch ausgeschlagen. Presbyterium [Chorraum] u. Oratorium [Kapelle] sind gleichfalls schwarz drapiert überall ist d. Wappen d. seligen Kaisers angebracht. D. Kniebänke sind schwarz überzogen. d. Fußboden schwarz bedeckt. Aus d. Dunkel d. Kirche strahlt d. Licht ungezählter Kerzen. Geruch d. Blumen u. d. Weihrauchs, schweigen im geöffneten Kirchenraum. D. Schweigen um alle Menschen draußen macht d. Szenerie dieser geweihten Empfangshalle: Lange v. Ankunft d. Leichenzuges hatten sich d. Trauernden eingefunden. Schwer u. dumpf läuten d. Glocken d. Domes, während d. Trauerzug herannahte. Nun begab sich Kardinal Dr. Piffl mit seiner Assistenz zum Kirchentore. Nachdem d. Sarg abgehoben war, wurde er empfangen und in d. Kirche getragen. Innen bildeten alle Bischöfe Österreichs Spalier [Durchgang]. D. Sarg wurde von d. im Zuge marschierenden Edelknaben [Angetellte am Hof], die brennende Kerzen trugen, sowie von Offizieren mit gezückten Säbel getragen begleitet. Dem Sarg folgten Fürst [Alfred] Montenuovo [Obersthofmeister von 1909-1917], die Hofchargen [Verwaltungsbeamte], die Generaladjutanten u. Flügeladjutanten [militärische Befehlshaber]. Sobald d. Sarg wieder aus d. Dom getragen wurde, setzte sich d. Zug in Bewegung u. langte kurz v. 4 Uhr in d. Kapuzinerkirche an. Hinter dem Sarge schritten d. Kaiser Karl u. Kais. Zita [Ehefrau von Karl I.], in ihrer Mitte d. kl. Kronprinz [Otto], die fremden Herrscher, ihre Gesandtschaften, Erzherzoge Erzherzoginnen u. s. w. D. Sarg wurde vom Wagen gehoben und d. Zug verschwindet im Schwarzen Tor d. Habsburger Gruft. Der Sarg wurde v. d. Geistlichen empfangen, und in d. Kirche getragen. Es folgte d. nochmalige Einsegnung. Unter Trauergebeten u. Fackelbegleitung wurde d. tote Majestät in d. Gruft getragen. Hier wird d. Tote nochmal eingesegnet. Nach d. Gebeten wird der Schlüssel zum Sarg d. Guardian d. Kapuziner [Vorsteher des Kapuzinerkonvents] übergeben. (…)

Sammlung Frauennachlässe NL 53
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  • Zum Tagebuch von Anna H. siehe auch: Petra Putz, „Die heldenmutigen Truppen kämpfen siegreich an allen Fronten …“ Die Wirkung der Propaganda im Ersten Weltkrieg am Beispiel des Mädchentagebuchs von Anna H. (1916/17), Wien, Diplomarbeit, 2008.

Zitation dieses Beitrages: Der Erste Weltkrieg in Selbstzeugnissen – Auszüge aus Beständen der Sammlung Frauennachlässe Nr. 88, Tagebuch von Anna H., Datum, SFN NL 53, unter: URL