Der Erste Weltkrieg in Selbstzeugnissen – Auszüge aus Beständen der Sammlung Frauennachlässe Nr. 85, Tagebuch von Anna H., 7. bis 15. Oktober 1916, Graz

1916-10-07Anna H. (geb. 1903) wuchs in gut situierten Verhältnissen in Graz auf, wo die Eltern einen Gasthof führten. 1916 besuchte sie eine private Klosterschule. Das von ihr in der Sammlung Frauennachlässe als Kopie vorliegende Tagebuch umfasst den Zeitraum von Oktober 1916 bis November 1917. Die ersten Einträge der 13jährigen enthalten detaillierte Wiedergaben von Preis-Entwicklungen, Lebensmittel-Rationierungen der Geld-Entwertung sowie patriotisch gefärbte Nacherzählungen von Front-Verläufen. Dazu berichtete Anna H. auch von Demonstrationen in der steirischen Hauptstadt, deren Teilnehmer/innen sie als „Weiber“ und „ehrlose Buben“ bezeichnete sowie von Ausgangssperren. Es ist zu vermuten, dass sie zum Führen dieser Aufzeichnungen in der Schule motiviert wurde oder dass sie (teilweise) auch im Rahmen des Unterrichts verfasst worden sind.

Graz, Prankergasse 40.
Mein Tagebuch
angefangen
im Oktober 1916.

7. Oktober
Es besteht jetzt eine sogroße Lebensmittelteuerung, so daß man kaum weiß, waß man kaufen soll. So z.B. kosten
1 Ei 30 h
1 l Liter Milch 40 bis 46h
1 l Wein 160 bis 240 K
1 l Most 60 h
1 l Öl 14 K
1 kg Zucker 1 K 4 h
1 kg Schmalz 8 bis 12 K
1 Laib Brot 40 h nur 700 g oder 80 h (1.400 g)
1 kg Butter 10 K
1 kg Rindfleisch 8 K
1 kg Kalbsfleisch
1 kg Schweinefleisch 9 K
1 kg Kaffee 12 K
1 l Bier 1 K 12 h
Außerdem bekommt man es sehr schwer. Man muß stundenlang stehen und warten und bekommt zum Schluße garnichts.
Wir haben jetzt Brot-, Zucker-, Kaffee- und Fettkarten. Brot muß jede Partei selbst holen, und zw. bei einem bestimmten Bäckern. Für eine Person kommt im Tage nur um 10h Brot (225g). Für eine Person kommt im Monat 1 1/4 kg Zucker, 3/16 kg Kaffee und 12 dag Fett.

8. Oktober
Im September waren die großen Überschwemmungen der Mur und Drau. Gründe sind Wolkenbruch in Obersteiermark und Weststeiermark. Die Mur überschwemmte die Gegend zwischen Gösting [nördlicher Bezirk von Graz] und Stübing [Ortschaft ca. 20 km nördlich von Graz], Leibnitzerfeld [südlich von Graz]. Die Straßen standen teilweise metertief unter Wasser. Der Kukerutz [steirischer Begriff für Mais] schaute nur mit den obersten Teilen aus dem Wasser. Kürbisse schwammen auf dem Wasser. Aus Oberstein [?] kamen Kälber und Wild heruntergeschwommen. Bei uns in Graz regnete es tagelang. Der Murstand war über 2m übern gewöhnlichen gestiegen. Die Weinzötlbrücke wurde scharf bewacht. Diese Überschwemmungen dauerten zirka von 6. September bis 13. September. Auch die Drau richtete großen Schaden an. Auch andere Flüsse, wie die Sann [Fluß in Savinja, zeitgenössisch steirisches Gebiet], Kainach [Zufluss zur Mur südlich von Graz] traten aus ihrem Bette und richteten keinen geringen Schaden an.

9. Oktober
Heute ist Kronstadt wieder in unsere Hände gelangt, nachdem General Falkenhayn und General Machensen die Rumänen erneut geschlagen haben. Im Süden von Rumänien kämpfen Deutsche und Bulgaren ebenfalls siegreich in der Dobrutscha [Dobrudschat, Gebiet zwischen Rumänien und Bulgarien]. Die befestigte Stellung am Westrande des Geisterwaldes, der längs Alt (Aluta) [Olt, linker Nebenfluss der Donau in Rumänien] von der Fogarasch-[Stadt in Siebenbürgen]-Kronstädterstraße wurde von unseren und deutschen Truppen unter dem Oberkomando des Generals von Falkenhayn angegriffen und vollkommen geschlagen, 43 Geschütze erbeutet und 220 Mann geschlagen. Auch weiter im Norden ist unser Angriff in günstigen Fortschreiten. Der Feind wurde über den Homorod [Gemeinde in Siebenbürgen] /./. Die Umgehungskollone Krafft steht bereits auf rumänischen Boden, jenseits des roten Turmpasses.

10. Oktober.
Infolge Not an Kronen hatten wir 2 K Noten in Papier bekommen. Jetzt werden diese 2 Kronen Noten in der Mitte auseinander getrennt und diese wiedergetrennt, so daß wir jetzt 2 K Noten, 1 K Noten und 50 h Noten haben. Jedoch ist es noch nicht ganz bestimmt, ob die 1/4teln von den 2 K Noten bleiben werden. Auch neue Zehnkronen haben wir bekommen. Der Unterschied zwischen beiden ist, dass die alten einen Mädchenkopf hatten, die neuen jedoch einen Knabenkopf und zwar den Kopf des ältesten Sohnes des Karls, Franz Josefs, unseres jetzigen Thronfolgers, (Franz Josefs) Otto. Außerdem haben die neuen an der schmäleren Seite einen etwa 3 cm breiten Streifen dabei, auf der einen Seite die Zahlen und Inschrift, auf der anderen Seite die ungarische Krone haben. Auch ist die Anordnung der Schrift im wesentlichen anders. Ein anderer Unterschied ist noch, daß die alten Banknoten auf beiden Seiten gleich (nur auf der einen ungarische, auf d. and. deutsche Sprache), die neuen jedoch verschieden sind.

11. Oktober.
Beim Fall von Kronstadt wurde eine große Beute eingebracht u. zw. 1175 Gefangene, 25 Geschütze (darunter 13 schwere), zahlreiche Munitionswagen und Waffen, über 800, meist mit Verpflegung beladene Eisenbahnwagen und viel anderes Kriegsgerät.
Die geschlagene Rumänische Armee wird ins Gebirge verfolgt. Die Armee des Generales von Arz hat die sich stellenden Nachhuten des Feindes geworfen und ist im Begriffe, die Ausgänge der Ebene Csik [ungarisches Komitat in Siebenbürgen] zu gewinnen. Auch zur See haben wir große Ereignisse aufzuzählen. In der Nacht vom 8. auf den 9. d. M. belegte eines unserer Seeflugzeuggeschwader die Flugstation und Hafenanlagen (mit) von Vlora [Hafenstadt in Südalbanien] sehr erfolgreich mit Bomben. In der darauffolgenden Nacht belegte {eines uns. Seeflugzeuggeschwader} mit Bomben und griff Monfalkone, die feindliche Seeflugstation bei Grado, ein anderes den Bahnhof und d. militärischen Anlagen von San Giorgio di Nagaro sehr wirkungsvoll /./. Es wurden sehr viele Volltreffer erziehlt. Alle Flugzeuge sind unversehrt zurückgekehrt.

12. Oktober.
Ach, welche Tage des Schreckens sind jetzt! Alles in Aufruhr! Gestern in der Nacht ging es in der Stadt um! Fensterscheiben von Café Kaiserhof und v. anderen Cafés und Hotels wurden eingestossen. Auch vor Bäckermeistern und Gasthöfen schrie die wütende Menge. Vor der Burg beschimpften sie den Statthalter mit Worten, die ich hier nicht wiedergeben will. Um 11h sollte das Militär ausgerückt sein. Heute waren die Kasernen schon um 5h geschlossen. Alles {Militär} mußte in den Kasernen schlafen. Alles, Landsturm, Landwehr, kurz alles, was an Militär hier ist, bereitet zum Ausmarsch. Was wird heute wieder sein! In den Schulen ist nachgefragt worden, ob jemand von den Kindern dabei war. Nämlich jene, welche dabei waren, werden im Rathause angemeldet, und deren Eltern bekommen weder eine Ausweiskarte von Brot, noch vom Mehl, noch von anderen Lebensmitteln. Hoffendlich bleibt heute das angesagte Wüten aus, hoffendlich! Gestern besorgte diesen Schreien u. Wüten eine Menge von 5.000 Weibern und eine Menge von ehrlosen Buben. Hoffentlich hat der Krieg bald ein Ende, und mit ihm diese Greuel und Wirrnis. Möge es Gott geben! {amen}.

13. Oktober.
Die Hoffnung, welche ich gestern hegte, daß heute dieses Wüten nicht sein möchte, bestätigte sich leider nicht. Es war sogar noch schrecklicher. Sie zogen in den Straßen umeinander und hauten Fenster ein, so beim Gasthaus zum Löwen (Absenger, Idlhofgasse), zum Bayrischen Hof (Hasel, Annenstraße). Auch die Fenstern Privathäuser, so beim Engelhofer und sehr viele andere. Beim Bäckern Blechschmidt stößten sie 22 Scheiben ein. Auch sehr viele Straßenlaternen wurden umgestossen.
Während diese ehrlosen Buben und Weiber es hier, im Hinterlande, es so treiben, vergießen tapfere Männer ihr Blut, um das Vaterland zu retten. Sie kämpfen mit den Feinden, um sie abzuhalten von ihren teuren Vaterlande, während eigene Einwohner, direkte Österreicher, hier hausen, wie die ärgsten Feinde. Tapfere, treue, echte Österreicher sind jene, welche um ihr Vaterland kämpfen, während jene ehrlosen Buben nicht wert sind, den Namen Österreicher zu tragen.
Sie kämpfen in Rußland, sie kämpfen in Serbien, sie kämpfen um Recht, sie haben erworben, was sie gebürt. Wir wollen Gott um seine Gnade bitten, daß er uns den Frieden gibt, uns den Sieg gibt, uns aber auch den innern Frieden gibt.

Gebet
Allmächt’ger Gott, Du willst uns gut,
Du schützt uns vor frevelnden Übermut,
Du hast uns auf harte Probe gestellt,
Gen‘ uns starrt in Waffen die ganze Welt.
Zu leichter Sieg hätt‘ uns erschlafft,
Nur harter Kampf gibt nun Krafft,
Doch wenn wir gerungen im harten Schweiß,
Dann gib uns, o Herr, des Sieges Preis.

Die Unseren werden in den Schlachten hart bedrängt. Nun ist bereits seit 10 Tage die 8. {10.} Ins Isonzoschlacht im Gange. Der Italiener will Triest in seine Hände bekommen. Hoffentlich gelingt es ihm nicht.
Bulgarische Blätter melden uns: Der rumänische Zusammenbruch an der Donau und der Gang der Oparation in Siebenbürgen sind Ereignisse größter, ja entscheidenter Bedeutung. Rumänien wurde über den Haufen geworfen, ohne daß ihm Rußland zu Hilfe kommen konnte. Rußlands Kraft ist erschöpft und würde zur Reoganisierung nicht tauglich sein.

14. Oktober.
Die Angriffstätigkeit der Italiener hat nachgelassen. Alle Versuche der Feinde, die Linie zwischen San Grado und Nova Vas zu durchbrechen scheiterten. Das Laibacher Landwehr-Infanterie-Regiment No. 27 und Abteilungen des Infantrie Regimentes No. 46 verdienen durch ihre Tapferkeit in den Kämpfen nördlich von Lokvaca [Lokvica an der italienisch-slowenischen Grenze], in wel. die Italiener besiegt worden sind, besonderes Lob. Ein italienisches Luftgeschwader belegte vorgestern Kwalla [?] mit Bomben. Ein zur Verfolgung ausgestiegener Österreichischer Kampfflieger schoß ein Caproniflugzeug [italienische Flugzeugmarke] ab.
Infolge der Wirrnis und des Weitens wurde vom Militärkomando {eine} folgende Kundmachung herausgegeben, von welcher ich hier das notwendigste notieren will: Der Schutz der Stadt Graz steht von nun an unter militärischen Schutz. Kinder unter 15 Jahr. dürfen nach 1/2 5 nicht auf der Gasse sein. Die Geschäfte müssen um 5h geschlossen werden, Gasthäuser um 9h, Cafehäuser um 5h und Haustore um 6h geschlossen werden. Wer diesen Regeln widerspenstig ist, verfällt dem Militär und wird nach dem Standrecht gerichtet.

15. Oktober.
Gestern machten wir einen Ausflug, um Schwämme zu suchen. Es ist jetzt eine außergewöhnliche warme Zeit. Wir sammelten uns um 7h im Waisenhause. Wir waren 8 Kinder u. zw. H., K., {J.} Hermine, N., O., L., K. und ich und l. Schwester Huberta, Schw. Veronika, also im ganzen 10 Personen. Wir fuhren bis Gösting. Von hier gingen wir gen‘ Judendorf [Ortschaft nördlich von Graz], aber auf dem linken Murufer. Wir kamen zirka um 9h in der Dult [lokale Ortsbezeichnung] an. Nun gaben wir unsere Rucksacke und Jacken im Schwesternheim ab und streiften durch die Wälder und suchten Schwämme. Wir fanden nur 3 Pilzlinge u. zw. einen Schw. Huberta, einen ich u. einen d. L. Dafür aber fanden wir 3 Körbe voll Habichtsschwämme. Nach dem Essen putzten wir sie. Dann gingen wir nach Hause. In den Ferien war ich 3 Wochen bei Tante Pepie in Judendorf. Ich kam öfters zu Tante Anna. Am 20. August machten Tante Anna, Wetti, Karl und ich einen Ausflug nach Schüsserlbrunn [Walfahrtsort auf der steirischen Teichalm]. Wie es mir da ergangen ist, habe ich der Mutter in einem Brief geschrieben. Dieser ist hier eingeklebt [in der Quelle nicht erhalten]. Auch wie es mir in Ferienzeit ergangen, habe ich eingeklebt. Leider fuhren wir schon Donnerstag nach Hause, denn Vater konnte nicht kommen.

Sammlung Frauennachlässe NL 53
Nächster Eintrag aus dem Tagebuch von Anna am 21. November 2016

Die Verwendung der Namen der Schreiber/innen und ihrer Familien folgt den vertraglichen Vereinbarungen der Sammlung Frauennachlässe mit den Übergeber/innen. In den Dokumenten genannte Namen dritter Personen werden aus Datenschutzgründen anonymisiert.

  • Zum Tagebuch von Anna H. siehe auch: Petra Putz, „Die heldenmutigen Truppen kämpfen siegreich an allen Fronten …“ Die Wirkung der Propaganda im Ersten Weltkrieg am Beispiel des Mädchentagebuchs von Anna H. (1916/17), Wien, Diplomarbeit, 2008.

Zitation dieses Beitrages: Der Erste Weltkrieg in Selbstzeugnissen – Auszüge aus Beständen der Sammlung Frauennachlässe Nr. 85, Tagebuch von Anna H., Datum, SFN NL 53, unter: URL