Ist eine europäische Frauengeschichte möglich? – Diskussionsbeitrag von Michael Mitterauer

NICHT DER RAUM, DAS PROBLEM IST DER AUSGANGSPUNKT
„E possibile una storia europea delle donne?“ lautet die Frage, von der die hier geführte Diskussion ihren Ausgang genommen hat. Ich möchte mich ihrer Beantwortung vor allem aus der Perspektive der Geschlechtergeschichte bzw. der Familiengeschichte annähern. Mit beiden habe ich Erfahrung. Parallelen zur Frauengeschichte scheinen mir durchaus gegeben. Mein Versuch einer Antwort bedeutet eine Modifikation der Fragestellung. Sicher ist eine europäische Frauengeschichte, Geschlechtergeschichte, Familiengeschichte möglich. Aber ist es sinnvoll, Frauengeschichte, Geschlechtergeschichte, Familiengeschichte auf den räumlichen Rahmen Europa bezogen zu betreiben?
Drei Bespiele aus eigener Arbeitserfahrung. Ich habe mich viel mit der Bedeutung patrilinearer Verwandtschaftssysteme für die Stellung von Frauen und Männern in historischen Gesellschaften und deren Fortwirken bis in die Gegenwart beschäftigt. Solche Studien erfordern den Vergleich. Sicher kann man Kontrastbeispiele zu den im Kulturraum Europa seit alters vorherrschenden bilateralen Strukturen auch im Rahmen des Kontinents Europa finden – etwa im westlichen Balkanraum, vor allem im nördlichen Albanien oder in Montenegro. Geht man aber über den Kontinent Europa hinaus, so eröffnet sich ein viel weiteres Feld an Vergleichsmöglichkeiten. Das Bild patrilinearer Kulturmuster wird differenzierter. In den Ahnenkultgesellschaften Ostasiens etwa hat Patrilinearität eine ganz andere Funktion als in Stammesgesellschaften des Vorderen Orients. Beide hier exemplarisch genannten Typen helfen, aus dem Kontrast verschiedene europäische Entwicklungen des Verwandtschaftssystems besser zu verstehen. Natürlich gilt das auch vice versa. Wenn wir das Phänomen der bint amm-Ehe – der verpflichtenden Heirat mit der Vatersbruderstochter – unter Zuwanderern in europäischen Großstädten der Gegenwart begreifen wollen, so hilft uns die europäische Frauen-, Geschlechter- und Familiengeschichte gar nichts. Das heutige Problem – und die Beeinträchtigung der freien Partnerwahl bedeutet wohl ein solches – führt – historisch-genetisch betrachtet – weit über Europa hinaus.
Ein zweiter Themenkreis, der mich viel beschäftigt hat, betrifft die Geschichte der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung. In Hinblick auf realisierte und postulierte Formen der Neuverteilung von Arbeit zwischen Frauen und Männern hat dieser Problemkreis sicher Aktualität. Eine Historische Anthropologie der Arbeitsteilung muss mit der Ethnologie kooperieren. Die Ethnologia Europaea bietet wohl viel an aufschlussreichem Vergleichsmaterial. Erklärungsmodelle für historisch gewachsene Formen der Arbeitsteilung gewinnen aber sicher an Validität, wenn ihr nicht nur europaweit, sondern weltweit komparatives Material zugrunde liegt. So sind mir Sonderformen geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung in europäischen Fischergesellschaften oder unter Hirten auf der Basis von Transhumanz erst in einer über Europa hinausgehenden Sicht bewusst geworden.
Bei einem dritten Arbeitsbereich meiner Studien, der zum hier debattierten Fragenkomplex passt, geht es um die Geschichte unehelicher Geburten. Unehelichkeit war und ist zum Teil heute noch mit gesellschaftlicher Diskriminierung verbunden. Eine Geschichtswissenschaft mit emanzipatorischer Absicht wird sich diesem Themengebiet stellen müssen. Auch hier gilt: Europa bietet vielfältige Muster von Unehelichkeit, deren Vergleich historisch interessante und für die Gegenwart relevante Ergebnisse erbringt. Aber sieht man über Europa hinaus, so wird das Bild weitaus vielfältiger. Diskussionen auf einer derart weit ausholenden Basis waren für mich vor 25 Jahre am Institut für Historische Anthropologie der Universität Freiburg der entscheidende Anstoß, Historische Familienforschung, Geschlechtergeschichte, zum Teil auch Frauengeschichte in einem über Europa hinausgehenden räumlichen Kontext zu betreiben.
Aufgrund meiner persönlichen Erfahrungen mit Geschlechtergeschichte, Familiengeschichte, auch Frauengeschichte möchte ich die These formulieren: Nicht ein bestimmter Raum, sondern ein bestimmtes aktuelles Problem sollte der Ausgangspunkt für unsere historische Forschungsarbeit sein. Unterschiedliche Probleme bedürfen unterschiedlicher Untersuchungsgebiete. Diese Untersuchungsgebiete können sich auf Europa bzw. dessen Teilregionen beschränken, sie können aber auch über Europa hinausgehen. Um realistisch zu sein: Mehr Wissen um Geschlechtergeschichte, Frauengeschichte, Familiengeschichte innerhalb verschiedener europäischer Regionen ist schon ein großer Fortschritt. Gerade gegenüber Ost- und Südosteuropa sehe ich diesbezüglich viel Nachholbedarf und habe mich in meinen Arbeiten sehr um eine Erweiterung des Blickfelds bemüht. Aber warum sollte dieses Blickfeld an den Grenzen Europas enden, wo immer man diese zieht? Die Frage nach den Möglichkeiten einer europäischen Frauengeschichte, Geschlechtergeschichte, Familiengeschichte kommt aus ganz anderen Zusammenhängen als den wirklich brennenden Problemen dieser aspektorientierten historischen Teildisziplinen. Ludolf Kuchenbuch hat sehr treffend von „Eurose“ bzw. „Eurotik“ in der Geschichtswissenschaft gesprochen. Sicher – alle reden über Europa. Aber es gibt wichtigere Probleme.
Michael Mitterauer

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