Oliver Gaida, HU Berlin; Marie-Theres Marx und Jan Waitzmann, Europa-Univ. Flensburg; Julia Reus und Anna Schiff, Ruhr-Univ. Bochum
Zeit: 11.-12.02.2021
Ort: Universität Flensburg
Einrichfrist: 15.11.2020
Als „unerzogen“ angesehene Kinder und Jugendliche sind ein gesellschaftspolitisches brisantes Thema. Seit 2010 stößt die Aufdeckung und Aufarbeitung diverser Skandale in Heimen, Pflegestellen und kirchlichen Einrichtungen auf ein breites medienöffentliches Interesse und wirft ein neues Licht auf Erziehungsinstitutionen und ihre (vermeintlich problematischen) „Schützlinge“. Gleichzeitig sind Autoren wie dem Pädagogen Bernhard Bueb und dem Kinder- und Jugendpsychiater Micheal Winterhoff mit ihren jeweiligen Thesen einer „unerzogenen“ Kinder- und Jugendgeneration Beststeller gelungen. Beiden gemeinsam sind die Forderungen nach der Rückkehr der Disziplin in die Erziehung, zur Überwindung der „Krise der Erziehung“. Ihre Bücher wurden in den Medien sehr wohlwollend aufgenommen – der Kritik von Fachverbänden und Forschenden zum Trotz.
Im 20. Jhd. wurde Erziehung zunehmend zur Aufgabe der sich immer mehr formierenden Sozialstaaten. So ermöglichte z.B. in Deutschland das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz die erzieherische Intervention des Staats im privaten Raum der Familie – auch gegen den elterlichen Willen. Für den Historiker Detlev Peukert bildeten die „Zuwendung zu den Erziehbaren und Ausgrenzungen der Unerziehbaren […] das Janusgesicht der modernen Sozialpädagogik.“ Mit seiner Untersuchung über den „Aufstieg und [die] Krise der deutschen Jugendfürsorge (1878–1932)“ hat er nicht nur ein Grundlagenwerk zu diesem Forschungsbereich vorgelegt, sondern auch einen einflussreichen Turn innerhalb der geschichtswissenschaftlichen Forschung zur Rechts- und Sozialgeschichte als deviant konstruierter Jugendlicher begründet. In den 1980er- und den 1990er-Jahren entstand daraufhin eine produktive Debatte, die sich an Detlev Peukerts Arbeiten und seinem Ansatz der Jugendfürsorge als „Sozialdisziplinierung“ entspann. Sie folgte zugespitzt der Frage, ob nun der grundlegende Charakter der Moderne (Detlev Peukert) oder die historischen Rahmenbedingungen (Marcus Gräser) die Erziehungskonzepte an ihren eigenen Ansprüchen vielfach scheitern ließen.
Die Kategorie Gender, die bei Peukert nur eine untergeordnete Rolle gespielt hatte, wurde besonders seit den 2000er-Jahren zentral in den Debatten verhandelt. Mit zahlreichen weiteren Studien (z.B. Carola Kuhlmann, Christa Schikorra, Jeanette Windheuser) erweiterte sich das Forschungsfeld dahingehend, dass bisweilen das gesamte 20. Jhd. über die klassischen politischen Zäsuren hinweg betrachtet wird – geografische Grenzen wurden hingegen bislang kaum überschritten.
Nach dieser produktiven Blütephase innerhalb des Forschungsfeldes entstanden keine grundlegenden Turns, weshalb sich die Frage stellt: Was kommt nach der „Sozialdisziplinierung“? Diese Frage lohnt insbesondere, da „das unvollendete Werk Peukerts viele Leerstellen aufweist“, wie Rüdiger Hachtmann und Sven Reichardt resümieren. Auch das Spannungsfeld zwischen Schutz und Zwang, die Verschränkung bürgerlicher und konfessioneller Erziehungsideale sowie Norm- und Moralvorstellungen zur Formung gesellschaftlich angepasster Jugendlicher lädt zu weiteren Fragen ein.
Im Rahmen des Workshops möchten die Veranstalter:innen durch verschiedene thematische und zeitliche Zugänge neue Erkenntnisse zur institutionalisierten Erziehung Jugendlicher im 20. Jhd. zusammentragen. Die Kombination von Langperspektiven und exemplarischen Untersuchungen bestimmter regionaler, institutioneller oder pädagogischer Praktiken soll dabei zum besseren Verständnis von (Dis-)Kontinuitäten und Besonderheiten bzw. Überschneidungen verschiedener Zwangserziehungssysteme beitragen.
Eingeladen sind Beiträge zu folgenden Themen:
a) Theoretische Ansätze zur Erforschung von (Zwangs-)Erziehungssystemen,
b) Methodisch-praktische Ansätze zur Arbeit mit Quellen der institutionellen „Fürsorgeerziehung”, praktische und inhaltliche Herausforderungen, Sprache sowie narrative Deutungsmuster,
c) Untersuchungen mit spezifischen Analysekategorien wie Geschlecht, Sexualität, Gewalt, Arbeit oder mit einem Fokus auf bestimmten Praktiken wie Arbeitserziehung, Erziehungskonzepte,
d) Forschungsprojekte mit Fokus auf bestimmten Gruppen Jugendlicher und deren Erfahrungen bzw. einzelnen Akteur:innen
Die Veranstalter:innen freuen uns darauf, interessante Projekte kennenzulernen und ermutigen insbesondere Nachwuchswissenschaftler:innen ihre Beitragsvorschläge einzureichen. Sie laden ein, Abstracts (max. eine Seite) für 30-minütige Vorträge sowie eine kurze Autor:innenangabe bis zum 15.11.2020 an waitzmann@frzph.de zu schicken. Nach Prüfung der aktuellen Covid-19-Infektionsschutzvorgaben gehen sie davon aus, dass die Tagung am 11. und 12. Februar 2021 in Präsenz an der Universität Flensburg stattfinden kann. In begrenztem Umfang können bei Bedarf voraussichtlich Reise- und Verpflegungskosten für Vortragende übernommen werden.
Kontakt: waitzmann@frzph.de
Quelle: https://www.hsozkult.de/event/