Forschungsschwerpunkt „Wirtschaft und Gesellschaft aus historisch-kulturwissenschaftlicher Perspektive“ und Institut für Europ. Ethnologie der Univ. Wien; Thassilo Hazod, Brigitta Schmidt-Lauber und Margareth Lanzinger
Zeit: 16.-17.11.2023
Ort: Institut für Europäische Ethnologie, Univ. Wien
Einreichfrist bis: 31.05.2023
Ländlichkeit und ländliche Räume fanden zuletzt in kultur- und sozialwissenschaftlichen Forschungen (wieder) große Beachtung. Das Interesse zeigt sich in zahlreichen Publikationen aus der Europäischen Ethnologie/Empirische Kulturwissenschaften (vg. Fenske, Peselmann, und Best 2021; Trummer und Decker 2020), der Soziologie (Kersten, Neu, und Vogel 2022; Steinführer u. a. 2019), der Kulturgeographie (Belina u.a. 2022b; Bätzing 2020; Maschke, Mießner, und Naumann 2022), der Geschichte (Mahlerwein 2016; Garstenauer 2010) und in interdisziplinären, literaturwissenschaftlichen Beiträgen (Langner und Weiland 2022; Nell und Weiland 2021; Marszałek, Nell und Weiland 2018).
Die Präsenz des Themas in einer breiteren Öffentlichkeit wird mitunter mit dem Begriff einer „neuen Ländlichkeit“ (Neu 2016) gefasst, die sich in populären Medien ebenso findet wie in der Belletristik, in Praktiken des Urban Gardening oder in Marketingstrategien der Lebensmittelindustrie (Trummer und Decker 2020). Vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie und der Klimakrise wurden und werden Stadtflucht und steigende Anziehungskraft ländlicher Räume als Wohn- und Arbeitsorte breit diskutiert (Belina u.a. 2022a, 19). Neben positiv konnotierten, mitunter idealisierenden Ländlichkeitsbildern, sind defizitäre Vorstellungen und Narrative (Abwanderung, Perspektivenlosigkeit, Strukturprobleme) fest etabliert. Angesichts der Vielfalt ländlicher Räume und gesellschaftlicher Zuschreibungen stellt sich die Frage, was die Attraktivität aktueller und historischer Lebensformen am Land ausmacht(e): Was ist gut am guten Leben am Land?Ziel des Workshops ist es, theoretisch und empirisch arbeitende Forscher:innen zusammenzubringen und eine Plattform für einen produktiven Austausch anzubieten.
Der Topos des guten Lebens auf dem Land verweist auf historisch wandelbare gesellschaftliche Erwartungen und Ansprüche, die, wie ländliche Räume selbst, sehr divergent sind (Nell und Weiland 2021a, 59): Sie reichen vom idyllischen Wohnort mit Naturerfahrung bis zur Selbstversorgung in der Landwirtschaft, von der Realisierung alternativer Ökonomien bis zur Suche nach Gemeinschaft, Autonomie oder Sicherheit. Diese vielfältigen mit Ländlichkeit verbundenen Erwartungen und Konnotationen sind Ausgangspunkt des geplanten Workshops, der eine kritische Bestandsaufnahme zum Ziel hat und folgende Fragen adressiert:
- Welche Imaginationen, Intentionen, Hoffnungen oder ökonomischen Bedingungen bringen Städter:innen dazu, ihre Lebensform aufzugeben, um am Land zu leben und Ansässige dazu, dort zu verbleiben?
- In welchen historischen und alltagsweltlichen Konstellationen treten sie zu Tage?
- Inwiefern bieten ländliche Lebensverhältnisse notwendige Handlungs- und Gestaltungsräume für soziale Organisation, ökonomische Praxis, genuine Kommunikations- und Kooperationsformen, in denen sich ein gelingendes Leben vollziehen lässt?
- Auf welchen biographischen, sozialen, räumlichen und zeitlichen Kohärenzerfahrungen beruht das gute Leben?
- In welchen politischen, rechtlichen oder familiären Rahmungen gestaltet sich dieses?
- Wer verfügt über nötige Ressourcen, ein solches Modell der Lebensführung zu entwerfen und zu realisieren?
- Welche sozialen Positionen erlauben es, Anspruch auf ein gutes Leben zu erheben? Und wird dieses als individuelles Projekt der Selbstverwirklichung oder als gesamtgesellschaftliche Forderung verfolgt?
Diese Fragen und Aspekte sollen im Workshop anhand aktueller Forschungsprojekte kritisch diskutiert werden. Der Topos des guten Lebens am Land ist dabei in seiner Historizität und Wirkungsgeschichte zu reflektieren und hinsichtlich zeitlich veränderter Voraussetzungen, Maßstäbe und Realisierungen zu beleuchten. Im Fokus sollen v.a. alltagsweltliche Dimensionen, konkrete Konzeptionen und Umsetzungen ländlicher Lebensformen in ihren jeweiligen sozialen und ökonomischen Einbettungen stehen. Praktiken der Suche nach dem guten Leben sind als wirtschaftliches Handeln zu verstehen. Sie beruhen auf Entscheidungsprozessen auf Basis vorhandener Ressourcen, sozialer Bindungen und Reglements sowie diskursiver Orientierungsmuster.
Für den Workshop werden Beiträge gesucht, die sich in das skizzierte Themenfeld einordnen und, historisch oder gegenwartsorientiert forschend, Fragen nach dem Guten Leben am Land nachspüren. Der Workshop versteht sich als Auftakt zu einer breiteren Vernetzung: Damit soll ein interdisziplinärer Diskussionsraum geschaffen werden, in dem ein anregender Austausch zu laufenden Forschungen zum Landleben stattfindet. Die Einladung zur Teilnahme richtet sich über historische und kulturwissenschaftliche Fächer hinaus dezidiert auch an Studierende/ Forschende anderer Institutionen wie der BOKU, der TU Wien oder der Bundesanstalt für Agrarforschung und Bergbauernfragen.
Wenn Sie einen Beitrag (deutsch oder englisch) gestalten und Ihre Forschung zum Thema vorstellen möchten, bitte um Einreichung eines Kurzabstracts (200 Wörter) bis 31.5.2023 an thassilo.hazod@univie.ac.at.
Der Workshop soll vor allem Raum für Diskussionen bieten. Die Beiträge werden daher vorab an alle angemeldeten Teilnehmer:innen zur vorbereitenden Lektüre verschickt und auf dem Workshop nur kurz präsentiert.
Literatur:
Bätzing, Werner. 2020. Das Landleben: Geschichte Und Zukunft Einer Gefährdeten Lebensform. 2. Auflage. München: C.H. Beck.
Belina, Bernd, Andreas Kallert, Michael Mießner, und Matthias Naumann, Hrsg. 2022a. „Ungleiche Entwicklung ländlicher Räume. Zur Einleitung.“ In Ungleiche ländliche Räume: Widersprüche, Konzepte und Perspektiven, 9–26. Kritische Landforschung. Umkämpfte Ressourcen, Transformationen des Ländlichen und politische Alternativen. Bielefeld: transcript Verl.
———, Hrsg. 2022b. Ungleiche ländliche Räume: Widersprüche, Konzepte und Perspektiven. Kritische Landforschung. Umkämpfte Ressourcen, Transformationen des Ländlichen und politische Alternativen. Bielefeld: transcript Verl.
Fenske, Michaela, Arnika Peselmann, und Daniel Best, Hrsg. 2021. Ländliches Vielfach! Leben Und Wirtschaften in Erweiterten Sozialen Entitäten. Würzburg: Königshausen & Neumann.
Garstenauer, Rita, Hrsg. 2010. Land-Arbeit: Arbeitsbeziehungen in ländlichen Gesellschaften Europas (17. bis 20. Jahrhundert). Jahrbuch für Geschichte des ländlichen Raumes 5. 2008. Innsbruck, Wien: Studien-Verl.
Langner, Sigrun, und Marc Weiland, Hrsg. 2022. Die Zukunft auf dem Land: Imagination, Projektion, Planung, Gestaltung. Rurale Topografien, Band 14. Bielefeld: transcript. https://doi.org/10.14361/9783839456750
Mahlerwein, Gunter. 2016. Grundzüge Der Agrargeschichte in Drei Bänden. Band 3, Die Moderne (1880-2010). Herausgegeben von Stefan Brakensiek, Rolf Kießling, Werner Troßbach, und Clemens Zimmermann. Vol. 3 Die Moderne (1880–2010). Köln: Böhlau Verlag.
Marszałek, Magdalena, Werner Nell, und Marc Weiland, Hrsg. 2018. Über Land: Aktuelle Literatur- Und Kulturwissenschaftliche Perspektiven Auf Dorf Und Ländlichkeit. Rurale Topografien, Band 3. Bielefeld: transcript Verl.
Maschke, Lisa, Michael Mießner, und Matthias Naumann. 2020. Kritische Landforschung: Konzeptionelle Zugänge, Empirische Problemlagen Und Politische Perspektiven. Kritische Landforschung. Umkämpfte Ressourcen, Transformationen des Ländlichen und politische Alternativen. Bielefeld: transcript Verl.
Nell, Werner. 2022. „‚Gutes Leben auf dem Land?‘: Diskursfeld und Analyse-Dimensionen.“ In Ungleiche ländliche Räume: Widersprüche, Konzepte und Perspektiven, herausgegeben von Bernd Belina, Andreas Kallert,
Michael Mießner, und Matthias Naumann, 99–115. Kritische Landforschung. Umkämpfte Ressourcen, Transformationen des Ländlichen und politische Alternativen. Bielefeld: transcript Verl.
Nell, Werner, und Marc Weiland. 2021a. „Der Topos vom guten Leben auf dem Land: Geschichte und Gegenwart.“ In Gutes Leben auf dem Land? Imaginationen und Projektionen vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, herausgegeben von Werner Nell und Marc Weiland, 9–73. Rurale Topografien, Band 12. Bielefeld: transcript Verl.
———, Hrsg. 2021b. Gutes Leben auf dem Land? Imaginationen und Projektionen vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Rurale Topografien, Band 12. Bielefeld: transcript Verl.
Neu, Claudia. 2016. „Neue Ländlichkeit. Eine Kritische Betrachtung.“ Aus Politik Und Zeitgeschichte, no. 46–47: 4–9.
Steinführer, Annett, Lutz Laschewski, Tanja Mölders, und Rosemarie Siebert, Hrsg. 2019. Das Dorf: soziale Prozesse und räumliche Arrangements. Rural areas, Band 5. Berlin, Münster: LIT.
Trummer, Manuel. 2018. „Das Land und die Ländlichkeit: Perspektiven einer Kulturanalyse des Ländlichen.“ Zeitschrift für Volkskunde, no. 114(2): 187–212.
Trummer, Manuel, und Anja Decker, Hrsg. 2020. Das Ländliche als kulturelle Kategorie: aktuelle kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Stadt-Land-Beziehungen. Kultur und soziale Praxis. Bielefeld: transcript Verl. https://doi.org/10.14361/9783839449905.
Quelle: kolloquium.iee@lists.univie.ac.at