Vortrag Karin S. Wozonig: Emanzipation des Fleisches und Diätetik der Seele. Bürgerliche Selbstdisziplinierung und Geschlechtscharaktere im neunzehnten Jahrhundert, 01.04.08, Wien

Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung Gendered Subjects VI: Körpermetaphern als Geschlechtermetaphern
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Zeit: Dienstag 01.04.08, 18:00 -20:00 Uhr
Ort: HS B, AAKH Campus Hof 2 1090 Wien, Spitalgasse 2

„Weg den egoistischen Blick von dem kleinlichen Zustande deiner Einzelheit! – hinaus, – mit Kopf, Herz und Hand, den großen, heiligen Angelegenheiten des Volkes, der Staaten, der Menschheit zugewendet! und die Kraft des Geistes über die Misere des Stoffes wird siegreicher und segenreicher offenbar werden, als ich es in schwachen Worten verkünden konnte.“ (Ernst von Feuchtersleben: Zur Diätetik der Seele, 5. Auflage, Wien 1848).
Ernst von Feuchtersleben (Arzt und Dichter) reiht sich mit seinem überaus erfolgreichen Buch Zur Diätetik der Seele, erste Auflage 1837, in eine lange Tradition der diätetischen Schriften ein, greift auf sie zurück und spiegelt doch seine Gegenwart, das biedermeierliche Wien. Feuchterslebens Anweisungen für die „Kunst sich zu beherrschen“ verweisen auf die problematische Rückbindung von Körperlichkeit und Bürgerlichkeit, die die Konstruktion des modernen Bürgers begleitet. Sie ist das Ergebnis eines komplexen Bündels an Faktoren, zu denen eine umfassende Rationalisierung der Lebenswelt und ein Vorrang der Empirie vor anderen Erkenntnisformen gehören. Dazu gegenläufig, aber ebenso konstitutiv für die Moderne, sind Prozesse der Individualisierung und Subjektivierung. Die Konstruktion der bürgerlichen Öffentlichkeit als Bereich des Rationalen und des Erwerbslebens führte nicht nur zum Ausschluss der Frauen, sondern es ergeben sich aus der Hierarchisierung der Sphären und der Ausbildung der „Geschlechtscharaktere“ bis zur Zeit Feuchterslebens und darüber hinaus weitere Komplexitätsschübe in der bürgerlichen Männlichkeits-konstruktion, die die Entwicklung des Bürgers als diskursiv zu bewältigende Störungen begleiten. Subjektivierung, Verunsicherung, die andere Seite von Rationalisierung und Ökonomisierung, werden aus der männlichen, bürgerlichen Öffentlichkeit in den privaten, weiblichen Bereich verschoben. Verkörperte, bürgerliche Affektkontrolle macht den Bürger nicht nur weiblich und damit für die öffentliche Sphäre untauglich (entbürgert ihn), sondern der gezähmte Bürgerkörper ähnelt darüber hinaus auch dem politischen Gegenspieler, dem Aristokraten. Zur Diätetik der Seele reagiert auf diese vielgestaltigen Wechselwirkungen von Bürgerkörper und politischer und sinnlicher Unterdrückung. Stellt man den Text Feuchterslebens in den literarischen Kontext der Zeit und setzt man ihn zur Vormärz-Rede von der „Emanzipation des Fleisches“ in Beziehung, zeigt sich gerade in seinen Körpermetaphern deutlich die Hybridität des Subjekts, an das sich der Text wendet: der latent neurotische bürgerliche Mann.

Literatur (Auswahl):

Franz X. Eder: „Durchtränktsein mit Geschlechtlichkeit“. Zur Konstruktion der bürgerlichen Geschlechterdifferenz im wissenschaftlichen Diskurs über die „Sexualität“ (18.-19. Jahrhundert) In: Margret Friedrich und Peter Urbanitsch (Hg.): Von Bürgern und ihren Frauen. Wien u. a.: Böhlau 1996. 24-47.
Karin Hausen: Die Polarisierung der Geschlechtscharaktere. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbsarbeit und Familienleben. In: Sozialgeschichte der Neuzeit Europas. Werner Conze (Hg.): Stuttgart 1976, 363-393.
Cornelia Klinger: 1800 – Eine Epochenschwelle im Geschlechterverhältnis. In: Katharina Rennhak und Virginia Richter (Hg.): Revolution und Emanzipation. Geschlechterordnung in Europa um 1800. Köln u.a: Böhlau 2004. 17-32.
Wolfgang Lukas: „Weibliche“ Bürger vs. „männliche“ Aristokratin. Der Konflikt der Geschlechter und der Stände in der Erzählliteratur des Vor- und Nachmärz. In: „Emancipation des Fleisches“. Erotik und Sexualität im Vormärz. Jahrbuch des ForumVormärzForschung 5. Jg. 1999. 223-260.

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