Den Anlaß zur Themenstellung für das nächste Frauen und Film-Heft gibt die Beobachtung, daß das zeitgenössiche Kino kein politisch-emanzipatorisches Interesse an Sexualität zu haben scheint. Ebenso wenig scheint die Kultur einer subtilen erotischen Aufladung, die im klassischen Kino immer wieder einen Ort fand, die Atmosphäre der sexuellen Spannung aus dem Kino verschwunden. Die nackten Tatsachen, in denen als gegeben angenommen wird, was Sexualität ist, was Liebe ist, und daß die Paarbildung nach wie vor am Ende aller Bemühungen stehen sollte, stellen keine Fragen mehr. Stimmt diese Beobachtung? – das ist die Ausgangsfrage des geplanten Hefts. Damit wollen wir den Diskurs über Sexualität wieder aufnehmen, der in der feministischen Filmkritik und Theorie einmal eine zentrale Rolle spielte. Auch in der Filmtheorie ist dieser Diskurs nämlich offenbar in den Schlaf gefallen.
Seit den 1980er Jahren wurden die Körperlichkeit des Zuschauers/der Zuschauerin und des Schauspielers/der Schauspielerin sowie des Films selbst ein zentrales Thema. Man löste sich damit aus den vorherrschenden semiotischen und poststrukturalistischen Diskursen. Weniger thematisiert wurde aber bei dieser Wiederentdeckung des Körpers dessen sexuelle Konnotation.
In den Gender Studies und Postcolonial Studies hat die Wiederentdeckung des Körpers zu spannenden Diskussionen geführt. Merkwürdigerweise hingegen belebte sich damit der Sexualitätsdiskurs nicht wieder, der so eng mit der Entstehung und Entwicklung feministischer Filmtheorie verbunden war und über den Feminismus hinaus Einfluß auf die Filmwissenschaft gewann. Sexualität scheint gerade im Zusammenhang der Reetablierung des Körpers in der Filmtheorie sowie der immer stärker werdenden Affizierung des Körpers im Kino selbst kein Thema mehr zu sein. Womit hat das zu tun?
Sicher befindet sich das Kino im Vergleich zu den 1970er und 80er Jahren gegenwärtig in einer anderen Situation. Pornografie- und Homosexuellenparagraphen gibt es nicht mehr. Die inflationäre Präsenz von Sexualität auf „allen Kanälen“ täuscht über eine gleichzeitige Ent-Erotisierung der Alltagskultur und der öffentlichen Sphäre hinweg. Im Kino wiederum scheint die Sensation vom sexuellen Tabubruch – in den siebziger Jahren aufsehenerregend beispielsweise in Der letzte Tango (Bernardo Bertolucci, I/F 1972), Der Nachtportier (Lilia-na Cavani I 1974) oder in Im Reich der Sinne (Nagisa Oshima, J 1975) inszeniert – in die Spezialeffekte abgewandert, in die Beschleunigung der Action, das Tempo der Montage, in Dolby Surround.
Andererseits ist eine immer stärker werdende Sexualisierung von Gewalt zum Beispiel im Splatterfilm zu beobachten. Zum Tabubrecher avancieren auch hybride Genres im Fernsehen und Internet. Damit findet – nicht zuletzt in Verbindung mit veränderten Modalitäten der Rezeption – auch eine andere Form der Sublimierung, Kultivierung und damit Kanalisierung von Sexualität statt.
Das Thema Sexualität birgt heute neue und andere Fragen: drängte sich Sexualität in den 70er Jahren in skandalösen Erzählungen, die unmittelbar im Zusammenhang der sexuellen Befreiung standen auf, steht jetzt überhaupt infrage, ob und wie Sexualität im gegenwärtigen Kino eine Rolle spielt. Einerseits heißt das, der Sexualität in den stilistischen Mitteln nachzuspüren und dort aufzudecken, andererseits zu schauen, wie sich gleichzeitig Sexualität und Geschlechterverhältnisse innerhalb der manifesten Erzählung verändert haben.
Mögliche Themen
- Sexualisierte Narration statt Narration der Sexualität
- Homosexualität, Transgenderbewegungen im Zeichen von Queer Politics im Film.
- Filmische Tabus heute? (Splatter, Snuff) und was hat das mit Sexualität zu tun?
- „Berliner Schule“ – ein Hauch von Askese in der Reflexion des Geschlechterverhältnisses?
- Welchen Status haben andere Foren der Artikulation von Sexualität wie Fernsehen und Internet im Verhältnis zum Kino?
- Perspektive des experimentellen Kinos. Material, Körperlichkeit, Sinnlichkeit: Kor-respondenz von Ausdruck von/Sehnsucht nach (anderen) Sexualität(en) und der Liebe zum filmischen Material
- Was ist, ohne den gesellschaftlichen Impetus der „Befreiung“, interessant an Sexualität?
- SchauspielerInnen, Stars: Welche Form der Sinnlichkeit verkörpern die jungen gegenüber den „alten“ Stars?
- Wie „männlich“ sind Vorstellungen und Begriff der Sexualität, die in Filmen, feministischer Kritik und Theorie eine Rolle spielten?
- Neuere Entwicklungen im französischen Kino: z.B. Catherine Breillat, Baise Moi, Irreversible
- Energien des Trash und der Subkulturen (Russ Meyer, Warhol) – wo sind sie heute?
- Ist Aids kein Thema mehr?
- Wie steht es um das Verhältnis von Sexualität und Liebe? Ist ‚Liebe’ immer noch – oder wieder – der übergeordnete Diskurs?
Einsendungen möglichst bis Oktober 2008 bitte per mail an: huether#upb.de
oder per Post bitte an:
Prof. Dr. Annette Brauerhoch
Fakultät für Kulturwissenschaften
Institut für Medienwissenschaften
Universität Paderborn
Warburger Strasse 100
33098 Paderborn
aus: https://www.univie.ac.at/gender