Der Erste Weltkrieg in Selbstzeugnissen – Auszüge aus Beständen der Sammlung Frauennachlässe Nr. 11: Briefe von Lili Stephani an ihren Ehemann, 11. bis 13. August 1914, Chemnitz

Brief von Lili Stephani, 12. August 1914Im Hochsommer 1914 rücke der Ehemann von Lili Stephani, Hermann Stephani (geb. 1869), als Oberst an die Westfront ein, ihr Sohn Kurt (geb. 1896) wartete als Kadett in Leipzig auf den Marschbefehl. Die älteste Tochter Elisabeth (geb. 1895) machte in diesen Wochen die vorgezogene Matura, um sich als Kriegskrankenschwester zu melden, was von Lili Stephani organisiert wurde. Als Ehefrau eines hochrangigen Militärs beteiligte sie selbst sich an mehreren ‚Liebesgabenaktionen‘ und Geldsammlungen, zudem an sozialen Unterstützungen „armer Familien“.

10. August 1914, Chemnitz
Mein geliebter Hermann!
Zwei liebe Karten von Dir habe ich bekommen, aus Apolda und aus Oberlahnstein; wir sitzen vor der Landkarte und stellen Vermutungen an, wohin es von da aus mag gegangen sein, nach Norden oder nach Süden? Mein Herzensschatz, wie meine Gedanken und Gebete immer bei Dir sind, es ist eine schwere Zeit, aber auch eine große Zeit!
Eben, es ist neun Uhr abends, waren wir vorn an der Heinrich-Beck-Schule und sahen die beiden Reservekompagnien abrücken, es war herrlich, wie zuversichtlich und froh all die Leute waren, es waren doch Reservisten, gewiß die meisten Familienväter, aber alle begeistert. Ich glaube, die meisten erfaßt eine wahre Wut. Es ist ja auch empörend, man findet keine Worte dafür, wenn man z.B. in den Zeitungen liest, wie in Belgien die Deutschen behandelt werden, wie Kranke, Frauen und Kinder vom Pöbel ermordet worden sind, eben nur, weil sie Deutsche sind.
(…) Heute früh habe ich mir zusammen mit Frau S. bei Oberst H. einen Ausweiß geholt um einmal auf den Bahnhof gehen zu können, wenn Truppenzüge durchfahren. Ich hörte gestern bei Frau E., daß man das bekommt. H. war auch sehr liebenswürdig und gab es uns sofort. Morgen wollen wir, da alle Stunden hier Züge durchgehen, hingehen. Wir wollen Cigarren mitnehmen. Es wurde gesagt, das sei das Erwünschteste, denn für Essen und Getränk ist ja schon gesorgt.
Der Recktor M. hat heute geantwortet. Elisabeth [19 Jahre] könne das Notexamen mitmachen, aber Bedingung dafür sei der schriftliche Nachweis, daß die Bewerberin zur Verwendung in der militärischen Krankenpflege angenommen sei. Du kannst Dir denken, daß uns diese Auskunft sehr beschäftigt. Elisabeth hat ja schon die ganze Zeit gesagt, daß sie sich so gern mit nützlich machen wollte. Ich erkundigte mich also, ob sie den Pflegerinnenkursus, den jetzt das Rote Kreuz veranstaltet, mitnehmen könnte. Aber natürlich will alles wohl überlegt und bedacht sein, da fehlt vor allen Dingen Dein Rat. Ich habe mich telephonisch mit dem Arzt, der den Kursus leitet, in Verbindung gesetzt und morgen früh zwischen sieben und acht Uhr soll ich mit Elisabeth zu ihm kommen. – Wirkliche Krankenpflege wird Elisabeth ja körperlich kaum leisten können, wir dachten aber, es gäbe da in einem Lazarett z.B. auch schriftliche Sachen oder dergleichen, wo sie sich beteiligen könne. Nun, das soll sich morgen früh entscheiden und dann schreibe ich weiter. – – Heute Abend, – heute Nacht, mein lieber, lieber Hermann, wo wirst Du Dein Haupt zur Ruhe legen? Aber Du stehst überall in Gottes Hand, das soll mein Trost und meine Zuversicht sein.
Dienstag, den 11. August 1914
Heute früh schreibe ich weiter, mein Brief wird tagebuchähnlich, aber Du sollst doch möglichst alles und alles so ausführlich wie möglich von uns erfahren. Also, Elisabeth und ich machten uns um halb sieben auf den Weg zu Dr. H., der Arzt, der die Rote-Kreuz-Sache unter sich hat. Er empfing uns sofort und wir sagten ihm ehrlich und aufrichtig um was es sich handelte, auch meine Bedenken, daß Elisabeth vielleicht ihres Beines wegen körperlich nicht kräftig genug sei. Er riet aber trotzdem zu dem Abiturium, denn er sagte, die jungen Mädchen würden nur stundenweise beschäftigt, wechselte sich ab bei der Pflege und Elisabeth brauche nicht tagelang herumstehen. So haben wir uns dann in Gottes Namen entschlossen, daß Elisabeth den Kursus mitnehmen soll. Der Doctor hat gleich die erforderliche Bescheinigung für das Examen ausgestellt und heute um 12 reist Elisabeth nach Plauen. Hoffentlich bist Du mit unseren Entschlüssen einverstanden!
Da war’s wieder gut, daß wir das Telephon hatten. Elisabeth hat sich gleich beim Rector für das Examen angemeldet und sich nach den Bedingungen erkundigt. Es dauert nur einen Tag. Morgen, Mittwoch d. 12., da wirst Du ihr auch den Daumen halten, wenn Du es wüßtest, nicht wahr, mein Schatz? Dann telephonierten wir an F. um Elisabeth bei ihnen anzusagen, beide Ferngespräche funktionierten ausgezeichnet. (…)
Von Kurt [18 Jahre] bekam ich heute früh die erste ausführliche Nachricht aus Leipzig, ich schreibe gleich ein Stück seines Briefes ab: „Am Morgen nach meiner späten Ankunft in L. ging ich in die Kaserne mich zu melden. Hier war man zunächst leicht erstaunt über mein Erscheinen, beruhigte sich aber […] mit denen man hier in die feinsten Lokale geht. Im Übrigen mache ich nichts, Du kannst Dir denken, was für ein furchtbarer Zustand!“ – – –
Ich kann mir gut vorstellen, daß dieses Dasein unseren Jungen jetzt nicht befriedigt, aber es wird ja wohl nicht mehr lange so fortgehen, dann kommt auch an ihn die Reihe seine Pflicht zu tun! Er schreibt noch, er wohne weiter in der Wohnung des Leutnant K., weil dieser morgen fortginge. (…) Von Mobilmachungsgeld oder anderem Geld habe er in Leipzig noch nichts gesehen! (…) Für heute 1000 Grüße mein lieber Schatz, ich küsse Dich und segne Dich! Gott sei mit Dir. In innigster, treuester Liebe Deine Lili

12. August 1914, Chemnitz
Mein lieber, lieber Schatz!
Wenn ich an Dich schreibe, bin ich am allerruhigsten. Es ist dann, als wärst Du mir näher. Und Du bist doch so meilenweit fern von mir und ich weiß nicht einmal, wo Dich meine Gedanken suchen sollen. Ich sitze vor der Karte und wenn ich Oberlahnstein sehe, woher Deine letzte Nachricht kam, denke ich, Ihr kommt in die Gegend von Metz oder nach Belgien, in dieses entsetzliche Land, wo der Krieg so unmenschlich geführt wird. Es ist schwer, Dich, mein liebes, liebes Herz in solchen Gefahren zu wissen, aber ich glaube deshalb nicht, daß wir mutlos sind. Du hast es mir ja durch Dein Vorbild gezeigt wie ich sein muß; ich denke immer daran, wie Du zuversichtlich und voll Gottvertrauen von mir gingst und bemühe (mich) auch so zu sein. Ich fürchte, die nächsten Tage werden vielleicht auch für Euch Entscheidungen und Kämpfe bringen und wir hier können weiter nichts tun als für Euch beten, aber das wollen wir aus tiefstem Herzen tun.
Heute, am 12, ist nun unsere Elisabeth in Plauen um ihr Abiturium zu machen. Ich bin nicht bange, daß sie es besteht. (…) Ich habe mir eine große Karte für 1.50 M. gekauft um alles, was auf dem Kriegsschauplatz vor sich geht, genau verfolgen zu können. Sie liegt in Deinem Zimmer ausgebreitet auf dem Tisch. Wenn die Nachrichten nur nicht alle so kurz und spärlich wären! –
(…) Hier rollen Tag und Nacht die Militärzüge durch. Wir hören ganz deutlich in unserer Wohnung, wenn ein Zug über die Brücke am Nikolaibahnhof fährt. Da hört man, wie die Leute Hurra rufen und jubeln. Und heute Nachmittag hat uns Frau S., die mir viele Grüße an Dich aufgetragen hat, veranlaßt mit heraus nach Grünau zu fahren; dort darf man mit Liebesgaben auf den Perron. Zwar halten dort die Züge nicht, aber sie fahren so langsam durch die Station, daß man alles bequem in den fahrenden Zug reichen kann. In zwei Stunden kamen fünf lange, lange Züge durch. Wir hatten alles Mögliche mitgenommen: Cigarren, Taback, Chocolade, Pfefferminz, Cakes, alles in kleinen Packeten, sogar Päckchen mit Zucker für die Pferde. Aber unsere Vorräte waren wie ein Tropfen ins Meer, bei den Hunderten von Händen, die sich ausstreckten. – Aber zu jedem Zug waren wieder neue Geber da, einfache Leute auch, mit Körben voll Flaschen, mit Getränken, Kinder mit Päckchen, jeder wollte geben und helfen und so wird es auf jeder Station sein.
Du kannst Dir denken, daß Christine [16jährige Tochter] mit Feuer und Flamme dabei war, auf manche Päckchen schrieb sie ihre Adresse und: „schreibt mir mal“! oder: „Grüßt meinen Vater beim Regiment 181.“ – Nun hofft sie sehnlichst auf eine Feldpostkarte. –
Für heute Abend soll es nun genug sein, morgen Fortsetzung. Ob Du schon einen Brief von mir bekommen hast? Ich glaube nicht; für dich ist es ja auch nicht so schwer Nachricht zu entbehren, du kannst ja annehmen, daß bei uns alles seinen ruhigen Gang weitergeht. Gott mit dir, mein liebes Herz, wo wirst Du denn Dein Haupt zur Ruhe legen? Gewiß unter freiem Himmel! Gott schütze und behüte Dich!
13.August
Der heutige Morgen brachte mir Deinen Brief aus Speicher! Ach, wie dankbar ist man doch für solch ein Lebenszeichen, wenn auch Tage vergangen sind seit Du es geschrieben. Ende der Woche, schreibst Du, soll es zur ersten Entscheidungsschlacht kommen. Heute ist Donnerstag, ach Gott, wie mag es nur (um) Euch alle stehen? Aber ich will nicht klagen; Gott allein kann Euch schützen!
Ich lege Dir Kurts heutigen Brief bei. Der arme Junge kommt bald um vor Ungeduld und mir schwachen Mutter ist es eine Beruhigung ihn noch geborgen zu wissen. (…)
Schrieb ich Dir schon in einem meiner vorigen Briefe, daß Ex. von G. eine Sammlung für die Unteroffiziersfamilien veranstaltet hat, durch Oberst. H.. Die Gattin eines hiesigen Hauptmanns hat (ungenannt) 2000 Mk. Gestiftet. Ich habe, nach unseren Verhältnissen erschien es mir das Richtige, 30 Mk. hingeschickt. Es werden ja jetzt so viel Anforderungen gestellt und von Herzen gern giebt man ja, was man kann. Wie schön muß es sein, jetzt mit vollen Händen, ohne rechnen zu müssen, geben zu können. Ich habe schon zwei arme Familien, wo der Vater fort ist, für die ich einmal in der Woche Essen koche. Auch ein Nähverein wird gegründet. Ich will mich beteiligen, wo ich kann. Heute und gestern steht viel in der Zeitung von dem Sieg bei Mühlhausen: Die deutschen Truppen haben 10 französische Offiziere, 513 Mann gefangen genommen, vier Geschütze, zehn Fahrzeuge, eine sehr große Zahl Gewehre erbeutet. Der deutsche Boden ist vom Feinde gesäubert. Bei Lagarde sind den deutschen Truppen über 1000 unverwundete Kriegsgefangene in die Hände gefallen, über ein Sechstel der beiden französischen Regimenter, die im Gefecht standen. – – –
Ach, mein guter, geliebter Hermann, wo magst Du jetzt sein! Gott schütze Dich, Gott segne Dich! In innigster Liebe und Treue denkt Deiner unablässig, Deine Lili.

13. August 1914, Chemnitz
Mein geliebter Hermann!
Ob Du schon eine Nachricht von mir bekommen hast? Wie mag es Dir ergehen. Nun wird das Warten für uns immer ernster! Der Tag geht so hin, da wird man abgelenkt und man sich mit allen möglichen Beschäftigungen, aber nachts, wenn man aufwacht, dann kommt die Angst und Sorge. Wenn wir denken müssen, daß es nun ernst wird für Euch, vielleicht in diesen Tagen schon, und wir hören und erfahren nichts davon! Es gehört viel Mut und Gottvertrauen dazu, dies zu ertragen. Aber ich will standhaft sein. Denke nicht, daß ich weine und klage, mein liebes Herz. Ich bitte nur Gott stündlich, daß er Dich behüten möge, mein Guter, Lieber! Daß ich Kurt noch in Leipzig weiß, ist mir ein kleiner Trost. Heute schreibt er, daß er nun endlich auch zu tun habe, ich soll deshalb nicht am 18. und 19. hinkommen sondern schon am Sonntag früh 7 Uhr 30 hier weg, 1½12 ist man in Leipzig. (…)
– Heute Nachmittag ist [Elisabeth] aus Plauen zurückgekommen mit bestandenem Abiturium. Die Censur ist ihnen aber noch nicht gesagt worden. Es ist Bestimmung vom Ministerium, daß das endgültige Zeugnis erst verabreicht wird, wenn die Betreffenden bei der Krankenpflege tätig sind resp. zur Truppe ausgehoben sind. Morgen früh wird El. nun noch mal zum Arzt gehen um mit ihm Rücksprache zu nehmen. Das Abiturium war nur mündlich, von 8 bis ½ 1, von 3 bis ½ 6. El. meint, sie habe in Allem gut abgeschnitten, nur in Chemie sei sie etwas hereingefallen. (…)
Gestern war ich bei Frau S. um einen Auftrag [eine Geldsammlung] wegen Commerzienrat V. auszuführen. Frau S. riet mir persönlich hinzugehen. Du kennst mich ja und wirst Dir denken, daß mir solch ein Gang nicht leicht geworden ist. Aber ich nahm allen meinen Mut zusammen, dachte daran, daß Du es wünschtest und mir gewissermaßen aufgetragen hattest und begab mich heute vormittag hin um eben zu betteln. Ich kann allerdings nicht anders sagen, als daß ich unendlich liebenswürdig aufgenommen wurde. Herr und Frau V. waren beide da. Er händigte mir sofort 100 Mk. ein und versprach auch sich weiter für die Sache zu interessieren. Heute schrieb auch Frau von G., ich solle Sonntag zu ihr kommen um mit Oberst H. und Frau H. gemeinsam zu besprechen über die Maßnahmen zur Versorgung der Unteroffiziersfamilien. (…) Du kannst also ziemlich beruhigt sein und auch den Familienväter der Unteroffiziere versprechen, daß hier getan wird, was irgend möglich. Es ist überhaupt rührend und erhebend zugleich, wie jeder sich bemüht zu geben und zu helfen. Nun lebe wohl für heute, mein geliebter Herzensschatz, Gott behüte, Gott segne Dich! Ich küsse Dich, ich umarme dich in treuester inniger Liebe
Deine Lili
1000 Grüße von den Kindern, sie sind früh zu Bett gegangen. Elisabeth war sehr müde. Für morgen, Sonnabend Nachmittag habe ich ein paar Regimentsdamen zu mir zum Tee eingeladen.

Sammlung Frauennachlässe NL 177
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Zitation dieses Beitrages: Der Erste Weltkrieg in Selbstzeugnissen – Auszüge aus Beständen der Sammlung Frauennachlässe Nr. 11, Briefe von Lili Stephani an ihren Ehemann, 11. bis 13. August 1914, SFN NL 177, unter: https://salon21.univie.ac.at/?p=17643