Der Erste Weltkrieg in Selbstzeugnissen – Auszüge aus Beständen der Sammlung Frauennachlässe Nr. 10: Briefe von Lili Stephani an ihren Ehemann, 7. und 9. August 1914, Chemnitz

NL 177 Stephani Handschrift von Lili StephaniLili Stephanis (geb. 1869) Umfeld war durch die Berufstätigkeit der männlichen Familienangehörigen militärisch geprägt. Ihr Vater war kgl. Hauptmann und 1870 im Deutsch-Französischen Krieg gestorben. Ihr Ehemann Hermann Stephani (geb. 1864) war Oberst, ihr Sohn Kurt (geb. 1896) zu Beginn des Ersten Weltkriegs Kadett. Beide waren Anfang August 1914 als Soldaten eingezogen worden. Die Internatsschulen, die die Töchter Elisabeth (geb. 1895) und Christine (geb. 1898) besuchten, hatten gerade Sommerferien.

7. August 1914
Mein geliebter Hermann!
Nun bist Du fort, mein guter, geliebter Schatz, aber mein Herz kann es doch nicht fassen, daß wir einen so ernsten Abschied genommen haben! Mir ist es immer, als müßtest Du plötzlich wieder unter uns sein, müßtest mit Deinem fröhlichen Gruß zur Tür hereintreten! Dagegen müssen Dich meine Gedanken in der Ferne suchen, auf dieser endlosen Eisenbahnfahrt. Unsere Gebete und unsere Gedanken begleiten dich immer, mein lieber, lieber Hermann. – Diese Nacht, die erste, wo Du nicht neben mir warst – sah ich Dich auf dieser langen Fahrt. Nun ist der Freitag bald vorüber und noch seid Ihr nicht am Ziel. Und doch kommst Du mir jetzt noch verhältnismäßig sicher und geborgen vor. Aber dann!
Ich habe diese Nacht – ich schäme mich fast (um Deine eigenen Worte zu gebrauchen) so fest geschlafen! – – – Eben werde ich ans Telephon gerufen von Herrn B. Er teilt mir mit, daß in der Stadt soeben das Extrablatt ausgegeben ist, daß unsere Truppen Lüttich im Sturm genommen haben mit allen Forts! Es herrscht eine große, freudige Aufregung, Gott sei gedankt! Du wirst ja diese Nachricht wohl doch hoffentlich eher erfahren als durch diesen Brief, aber schreiben mußte ich es Dir gleich! Welche Truppen dort freilich mitgekämpft haben, das wissen wir noch nicht, vielleicht schon Sachsen!
Hier schicke ich Dir den Zeitungsausschnitt, in dem Du Deinen Jungen [Kurt, geb. 1896] zum ersten Mal gedruckt liest. Er wird Dich interessieren, auch der anderen Kadetten wegen. Kurt schrieb heute wieder [eine] Karte von der Abschiedsfeier im Ratskeller, vielleicht könne er noch einmal kommen, da der Ersatz vielleicht noch drei Wochen in der Garnison bliebe. Vorhin besuchte uns auch sein Freund, der Fähnrich K., der hier bei den Ulanen eintritt, und brachte uns Grüße von Kurt. –
Soll ich Dir nun von unserem Leben, von dem heutigen Tage erzählen? Es kommt mir so kleinlich vor gegenüber all den großen Ereignissen, aber Du, mein Geliebter, denkst in einer stillen Stunde vielleicht doch hierher, dann machst Du Dir ein Bild von unserem Leben und Tun. Es ist abends acht Uhr, – Größchen [Mutter der Schreiberin] ist zur Kirche gegangen, es ist für heute ein allgemeiner Buß- und Bettag angeordnet, auch ich wollte mitgehen, aber da kam gerade K. und dann wurde es zu spät. – Ich werde auch so aus tiefstem Herzen für Dich und alle beten! Jetzt sitze ich am Schreibtisch, – Elisabeth und Christine [die zwei 1895 und 1898 geborenen Töchter] sind in ihren Zimmern, schreiben Kriegstagebuch und ordnen die Zeitungsausschnitte. – Am Nachmittag war ich in der Stadt und holte das Feuerzeug, was Dir hoffentlich der Major K. übergibt, ist es nun auch das richtige? Ich hatte es mir noch etwas anders gedacht. In der Stadt traf ich P. und freute mich, daß ich Herrn von P. noch Lebewohl sagen konnte. Ich weiß nicht, wann er weg geht. – Vormittags hatten wir viel zu Haus zu tun, der betriebsame Rost [vermutlich ein Hausangestellter, der den Hausherren offenbar als „Bursche“ im Kriegsdienst begleitet hat] fehlt, aber es ist uns allen gut, wenn wir zu arbeiten haben. Hoffentlich ist Rost auch weiter betriebsam und findig und sorgt gut für Dich, mein Lieb!
Heute habe ich unzählige Male versucht mit der Kaserne, resp. Regimentsgeschäftszimmer telephonisch Verbindung zu bekommen, Deines Mantels wegen, endlich um sieben abends gelang es. Ich bekam Bescheid, daß der Mantel doch noch mit bei Deinem Gepäck sei, er sei bestimmt noch mit eingepackt worden, er hinge nicht mehr dort. Ja, wo mag er wohl sein, hoffentlich wirklich bei Deinen Sachen! Ein Helm von Dir sei noch im Regimentsgeschäftszimmer, der soll morgen herausgeschickt werden, – gleichzeitig habe ich auch das Fernglas von Dir beim Regiment angeboten, es wird sehr gern genommen.
Mit Elisabeth habe ich vorhin einen Brief an den Rektor M. verfaßt, hoffentlich bekommen wir günstigen Bescheid wegen des Maturus [es war geplant, dass die ältere Tochter die vorgezogene „Notmatura“ ablegen sollte]. Aus Gnadau [wo die jüngere Tochter zur Schule ging] traf heute eine Nachricht des Directors ein, daß die Ferien bis zum 18. verlängert wären, der Truppentransporte wegen, etc. – Christine ist darüber nicht böse, sie war heute wieder den ganzen Nachmittag bei Dr. W. und hat dort gespielt und getobt!
Gott segne und behüte Dich, mein lieber, teurer Hermann. Er nehme Dich in seinen gnädigen Schutz!
In innigster Liebe grüße und küsse ich Dich
Deine treue Lili.

9. August 1914
Mein lieber, lieber Hermann,
Ist es möglich, daß Du erst zwei Tage von uns fort bist! Und wo sollen Dich meine Gedanken suchen? Wie mag es dir ergehen? Heute ist Sonntag, ein strahlend schöner Tag voll Sonnenschein, hier in unserer friedlichen Straße ahnt man nichts von den furchtbaren Ereignissen, die draußen die Welt bewegen.
Mein Herzenshermann, ich fühle erst jetzt, wo ich um Dich sorgen und bangen muß, wie lieb ich Dich habe und was Du mir bist, daß Gott Dich behüten möge, das ist mein tägliches, stündliches Gebet! – An Dich und an unseren Jungen [Kurt, geb. 1896] denke ich unablässig, – dieser ist ja Gottlob jetzt noch in verhältnismäßig sicheren Hafen. Er schreibt mir sehr brav täglich. Heute die erste Karte aus Leipzig, er sei von fünf Uhr nachmittags bis abends 11 dahin unterwegs gewesen. Die erste Nacht hat er im Hôtel gewohnt; in der Kaserne habe er bis jetzt noch keine Wohnung, ein Leutnant habe sich einstweilen seiner angenommen. Er sei feldgrau eingekleidet, sonst wisse er aber noch gar nichts, sei ganz beschäftigungslos. Vielleicht rückten sie in drei Wochen aus, vielleicht auch eher. Er will seinen Koffer zu S. geschickt haben, das finde ich ganz vernünftig, die treuen Freunde werden sich sicher seiner annehmen so viel sie können. Ich schicke alles heute ab, obgleich Kurt selbst schreibt, es sei fraglich, ob Fähnriche mit Koffer ausrücken dürften, aber vielleicht würde er bis dahin Offiziersstellvertreter. – Uns geht es so weit gut, – ich esse und schlafe wie in friedlichen Zeiten, nur arbeiten kann ich nicht so; zum Stillsitzen und Nähen, was ich doch sonst so gerne tat, fehlt mir die innerliche Ruhe! (…)
Gestern (…) ging ich mit ihnen und Christine [1898 geborene Tochter] in die Stadt um vielleicht neuere Nachrichten zu hören, es gab aber keine. – Wie wir über die Zeitungen herfallen, (…) jeder will auch was sammeln. Christine macht Ausschnitte für ihr Tagebuch, Elisabeth hebt alles Wichtige auf und Größchen [Mutter der Schreiberin] möchte auch noch was davon haben. (…) Elisabeth [1995 geborene Tochter] wird wohl wieder nach Plauen [in die Schule, um die vorgezogene Matura abzulegen] müssen. Man liest immer wieder, daß das Notexamen nur die, die mit ausziehen machen dürfen. Da werden wir uns hereinfinden müssen.
Vom Kadettenkorps kam heute ein schreiben, daß für Kurt keine Einkleidungshilfe gewährt werden könne, die geringen Mittel reichten nicht aus. Der Schlußsatz des längeren Schreibens lautet „ Für die während des mobilen Verhältnisses zu Offizieren beförderten ehemaligen Kadetten reichen diesseitigen […] Mittel nicht aus und ist in diesem Falle neben dem Mobilmachungsgeld die Einkleidungsbeihilfe nach § 34,2 b. Kr. Bes. V. zuständig“.
Was nun diese letzteren dunkelen […] Abkürzungen bedeuten, ist mir natürlich rätselhaft. Ich weiß auch nicht recht, an wen ich mich um Auskunft darüber wenden soll. Soll ich vielleicht mich an Oberst H. um Auskunft wenden, es klang doch so, als könne man irgendwo anders ein Gesuch anbringen.
Da fehlst Du mir schon mit Deinem Rat, mein Guter, Lieber. Ich weiß nicht, wird was versäumt, wenn ich warte, bis Du mir darüber Auskunft geben kannst. Freue heute, Sonntagnachmittag, hat Frau E. Elisabeth und mich eingeladen. Sie telephonierte, sie möchte, da sie bald wegginge, noch mal die Damen bei sich haben. So recht in Stimmung bin ich ja eigentlich nicht; es kommt mir wie ein Unrecht vor, wenn wir Damen so friedlich zusammen sitzen, während Ihr draußen in Not und Gefahr seid! Nächste Woche will ich noch ein paar Besuche bei unseren Regimentsdamen machen. –
Jetzt, Gott befohlen für heute – es ist besser, der Brief geht gleich fort. Ob Du ihn überhaupt bekommst, ob Euch schon Briefe nachgeschickt werden?
Lebwohl mein liebster, mein guter Hermann, Gott beschütze Dich! Viele tausend Grüße von Deiner Lili
Innige Grüße von Größchen und den Kindern

Notate im selben Brief der Tochter Christine, 16 Jahre:
Mein lieber Kriegsmann!
Bei uns ist’s nun sehr einsam und es wird sportmäßig gespart (nicht so tragisch). Meine Ferien sind bis zum 18. Verlängert, was sehr fein ist. Grüße 134 und 181 vielmals von mir. Gestern sahen wir am Bahnhof die Verladung 104. Pferde.
Habt Ihr schon Feinde gesehen?
1000 Grüße von Deiner Tochter Christine

Notate im selben Brief der Tochter Elisabeth, 19 Jahre:
Mein lieber Vater,
auch von uns recht herzliche Grüße! Bei uns gibt es, wie gesagt, nicht viel Neues. Es herrschte große Freude über die Erwerbung von Lüttich. In den Straßen sieht man mehr Soldaten denn je, fast alles Landwehrleute von 104. – B. haben auch Einquartierung von zwei Mann. – Grüße bitte alle Bekannten recht vielmals. Dir einen Kuß aus der Ferne von Deiner Elisabeth
Was macht Rost? [ein Hausangestellter, der den Oberst an die Front begleitet hat]

Sammlung Frauennachlässe NL 177
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Zitation dieses Beitrages: Der Erste Weltkrieg in Selbstzeugnissen – Auszüge aus Beständen der Sammlung Frauennachlässe Nr. 10, Briefe von Lili Stephani an ihren Ehemann, 7. und 9. August 1914, SFN NL 177, unter: https://salon21.univie.ac.at/?p=17596