Die Steirerin Maria E. (geb. 1890) verbrachte wegen einer Operation ihres 1,5-jährigen Sohnes im Frühjahr 1915 längere Zeit in Wien. Von hier schrieb sie ihrem Ehemann Adolf E. den folgenden Brief. Er war vor wenigen Wochen in den Kriegsdienst eingezogen worden, und hielt sich zuerst noch in der Heimatstadt, dann bei Gorizia/Görz oder Gradiška/Gradiska auf. Maria E. berichtete ihm u.a. von der unterschiedlichen Versorgungslage in der Großstadt – und wies auch auf Durchhalteparolen in Zeitungen sowie eine kolportierte, bevorstehende Revolution hin. Ihre aktuelle, dritte Schwangerschaft wird in der Korrespondenz nicht thematisiert.
Wien, 26. März 1915.
Mein Adolf!
Eben erhielt ich Deinen Brief vom 24./III. Im Allgemeinen dauert es also 2 Tage, ehe mich ein Brief von [zu Hause in der Steiermark] erreicht. – Du erzählst mir von Dir Adolf und ich sehe, daß Du eigentlich gar nicht soviel Zeit übrig hast, als ich stets glaubte! So früh mußt Du aufstehen und ich könnte den ½ Vormittag hineinschlafen, wenn ich nicht immer schon um ½ 6h erwachen würde! Dann fange ich an zu denken an Dich und daheim, ans Ausziehen und die Zukunft, so daß ich nimmer einschlafen kann! Findest Du wohl Zeit, hin und wieder nach A.’s Wohnung zu sehen? Die Schlüssel findest Du so in Deiner Schreibtischlade.
Dem Kleinen [1,5jährigen Sohn] geht es gut; er fängt schon an etwas mehr zu plauschen – natürlich wird bei ihm jedes Wort einsilbig. Bis jetzt konnte er tagsüber ruhig am Diwan liegen, ohne daß Gefahr vorhanden gewesen wäre, daß er bei der Breite seiner Schlafstelle herunterfallen könnte. Jetzt mußte ich bereits einen Tisch vorstellen, sosehr beweglich wird unser Bub N° 1 schon. Gestern lebten wir fast den ganzen Tag in der Veranda. Nur nachmittag, als Hermine und ihr Gemahl einen kleinen Spaziergang machten, ließ ich den Kleinen im Zimmer Raum zum „Krabbeln“. Er tat es mit Wonne – es scheint ihm lustig vorgekommen zu sein, daß er sich eine weiche Unterlage zum Rutschen schaffte. Ich hatte natürlich die Arbeit, alles zu putzen! Solche Sachen führt er mit Vorliebe auf! Ich merk überhaupt, daß ihm erst jetzt nach und nach das Verständnis dafür kommt! – Gelt, was für interessante Dinge ich Dir da erzähle! Aber er bringt mir noch die größte Abwechslung in mein jetziges Dasein! Ich zähle schon die Tage, wo ich wieder daheim sein werde!
Daß Du immer noch mutig weiter hoffst, weiß ich ja von Dir, ich tu ja auch dasselbe. Nur ist man halt selbst ein wenig frappiert, wenn es immer geheißen hat, eine Festung habe für ein Jahr ausreichend Proviant und dann muß sie sich nach ¼ Jahr aus „Hunger“ ergeben! Hier glaubt es übrigens niemand! Daß man gar nichts von der Besatzung erfährt! Adolf, ist es möglich, selbst Munition und Befestigungswerk zu vernichten, ohne daß die Bewohner, noch mehr aber die Besatzung Schaden erleidet? Die Leute – so sagt man – raunen hier einander zu: „Nun haben wir nimmer weit zur Revolution!“ Selbst wenn die Leute so reden, reden sie eben nur, aber an die Durchführung denkt dabei sicher niemand. In nächster Nähe und überall in den vorstädtischen Gebieten werden Schanzen aufgeworfen und an dergleichen Dingen gearbeitet. Was hat denn das für einen Zweck? Ich verstehe es nicht. – Die Teuerung wächst von Tag zu Tag, das Brot ist bereits nur mehr aus Mais und kohlschwarzem Mehl, trotzdem werden erst in 3–4 Wochen Brotkarten verteilt, vielleicht haben sie bis dorthin überhaupt kein Mehl mehr.
Hier [in Wien] sieht alles viel trostloser aus als daheim!
Was spricht die Mutter [die in der Steiermark in unmittelbarer Nähe wohnte] von Teuerung? Dort kostet sicher das kg Reis noch nicht 1.70 K! Wenn man so täglich die aussichtslosen Generalstabsberichte liest, und sich sagt, daß nach 8 Monaten blutigen Ringens noch immer keine Aussicht auf Frieden ist, könnte man fast zaghaft werden!
Die Zeitung kann leicht reden von „Jammertaschen“ u. ähnlichem. Man muß das doch einmal müde werden! Kommt Dir denn nie die Empfindung, Adolf? Gelt, jetzt habe ich wieder einmal „gescheit“ geredet. Aber Du darfst mich nicht auslachen, mein Glück. Mein Gemüt ist doch etwas angegriffen, so daß es nie von blutigen Schlachtfeldern, hungernden Menschen und unsagbarem Elend loskommt! Ich wehre ja jedem Gedanken! Doch vor mir das Invalidenheim, auf Schritt und Tritt – wenn ich überhaupt hinaus komme – Sorge und Leid, hier nur Kriegslektüre, Zeitungen und Landkarten mit Fähnchen, da kommt man doch nicht so leicht los! Du selbst im Soldatengewand u.s.w. Grüße und küsse mir Mutter und’s Nusserl [6monatiger Sohn].
Du sei fest und innig umschlungen und an mich gepreßt,
an Deine Maria.
Ist Dr. A. losgekommen? Mußte „W.“ auch einrücken?
Sammlung Frauennachlässe NL 174
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Die Verwendung der Namen der Schreiber/innen und ihrer Familien folgt den vertraglichen Vereinbarungen der Sammlung Frauennachlässe mit den Übergeber/innen. In den Dokumenten genannte Namen dritter Personen werden aus Datenschutzgründen anonymisiert. Die Briefe des Ehepaares E. liegt in der Sammlung Frauennachlässe – in Auszügen – als Abschrift vor.
Zitation dieses Beitrages: Der Erste Weltkrieg in Selbstzeugnissen – Auszüge aus Beständen der Sammlung Frauennachlässe Nr. 35: Brief von Maria E. vom 26. März 1915 aus Wien in die Steiermark, SFN NL 174, unter: https://salon21.univie.ac.at/?p=20654