Der Erste Weltkrieg in Selbstzeugnissen – Auszüge aus Beständen der Sammlung Frauennachlässe Nr. 41: Briefe des Wieners Adolf Müller an seine Ehefrau, 5. Mai und 9. Juli 1915 aus Libiaz und Tarnów in Galinzien

1915 05 05Adolf Müller (geb. um 1880) war Finanzverwaltungs-Beamter in Wien und Vater zweier kleiner Söhne, die Familie lebte im 5. Bezirk. Im Mai 1915 versah er seinen Kriegsdienst in der Verwaltung eines „Feldmarodenhaus“ in Libiaz in Galizien, wo ihn seine Ehefrau Louise Müller (geb. um 1890) auch besucht hat. In seinen Schreiben kommt u.a. die Ungewissheit der Dauer der aktuellen Tätigkeit und Aufenthaltsorte zum Ausdruck und Adolf Müller berichtet von den diffusen Informationen und kursierenden Gerüchte über Frontereignisse.

5.V.1915
Liebe Louise!
Hoffentlich bist du gut, das heißt mit heiler Haut & nicht ganz geräderten Knochen in Wien angekommen. In welchem Zustande fandest du die Kinder & in welchem deren Pflegeeltern vor?

Ich habe im Spitale ein ganz nettes Mansardenzimmer gemeinsam mit 2 Einjährigen, im Parterre ist ein Waschraum mit 10 Brausen, das wären alles Lichtpunkte. Nur kränkt es mich, wenn ich durch‘s Fenster schaue, draußen den herrlichen Sonnenschein sehe, & muß dann von 7 h früh bis 7 h abds Akten- & Journalstaub einatmen. Nun da kann man eben nichts machen, im Zivil geht’s mir ja auch nicht anders.

Gestern war hier ein Gerücht verbreitet von einer katastrophalen Niederlage der Russen bei Tarnow, 172.000 Gefangene, das erstere hat sich schon bestätigt, aber die Anzahl der Gefangenen muß man, scheint‘s, durch 10 dividieren. Also Russen dürften keine nach Libiaz kommen, jetzt fragt sich’s nur, wie lange ich noch hier bleibe. Es wird jetzt fest abgeschoben. Sie brauchen Leute an der Front, weil der Russ hinausmuß. Zeitungen brauchst Du mir keine schicken, höchstens immer die Sonntagzeitung.
Gruß Kuß
Adolf

[…]

Tarnow, 9. Juli 1915
Liebe Louise!
Heute bin ich den 5. Tag hier, aber es ist noch immer keine Aussicht eines baldigen Abschubes. In unsrer Kaserne geht es zu, wie in einem Bienenhaufen. Täglich kommen Transporte von 2-300 Personen, größtenteils Zivilisten, Arbeitern aus Lemberg, Przemysl & täglich gehen Transporte ab, also einmal wird ja auch für mich die Stunde schlagen.

Wir genießen große Freizügigkeit von 6 h früh bis 8 h heißt es zu Hause bleiben, da werden die Transporte verlesen, dann können wir in die Stadt frei nach unserem Belieben herumbummeln, um ½ 12 ist Menage dann wieder bis 2 h Verlesung der nachm. abgehenden Transporte & nachher wieder auf Lepsy [„Lepschi“: Wienerisch umgangssprachlich für „sich herumtreiben“] bis 9 h abds!

Ich kenne Tarnow schon, wie meinen Hosensack gestern traf ich im Café den S. Loisl, meinen Schulfreund, Bruder des Dr. S. den ich seit der 5. Volksschulklasse nicht mehr gesehen hatte. Das Wiedersehen wurde natürlich mit einigen Krügerln befeuchtet, wobei Jugenderinnerungen ausgetauscht wurden. Da sieht man, wozu so ein Krieg mitunter gut ist!

In längstens 8 Tagen hoffe ich in Wien zu sein! Wenn’s wahr ist!
Gruß & Kuß Adolf

Sammlung Frauennachlässe NL 14 III
Nächster Eintrag aus der Korrespondenz von Adolf und Louise Müller am 2. August 1915

Die Verwendung der Namen der Schreiber/innen und ihrer Familien folgt den vertraglichen Vereinbarungen der Sammlung Frauennachlässe mit den Übergeber/innen. In den Dokumenten genannte Namen dritter Personen werden aus Datenschutzgründen anonymisiert.

Das Ehepaar Müller war nahe verwandt mit der Familie von Leopold Wolf und Christl Lang, SFN NL 14 I.

Zitation dieses Beitrages: Der Erste Weltkrieg in Selbstzeugnissen – Auszüge aus Beständen der Sammlung Frauennachlässe Nr. 41, Briefe von Adolf an Louise Müller, Datum, SFN NL 14 III, unter: URL