Workshop: Das Schweigen der Quellen/ Le silence des sources, 20.11.2009, Frankfurt am Main

Institut Français d’Histoire en Allemagne Frankfurt am Main, Thomas Lienhard, Guillaume Garner (Web)
Zeit: 20.11.2009
Ort: Frankfurt am Main
Anmeldung bis:10.11.2009; Veranstaltung auf Deutsch und Französisch
Dass ganze Bereiche der Menschheitsgeschichte durch das Schweigen der uns zur Verfügung stehenden Quellen unzugänglich sind, ist ein Umstand, der die Arbeit von Historiker_innen ständig begleitet und sie gleichzeitig immer wieder vor neue methodische Herausforderungen stellt.
Die Ursprünge der Lücken in den Quellen sind mannigfaltig, und es wird nicht zuletzt das Anliegen dieses Workshops sein, mögliche Gründe für sie ausfindig zu machen. So ist etwa offensichtlich, dass bestimmte Akten nicht bis in unsere Tage hinein überliefert wurden, weil sie zu ihrer Entstehungszeit in den Bereich des Geheimen fielen, sei es auf finanziellem, technologischem oder diplomatischem Gebiet. Die mit diesen Angelegenheiten befassten Akteur_innen haben damals ihre ganze eifersüchtige Sorgfalt darauf verwandt, den Inhalt der Papiere vor ihren Zeitgenossen_innen – und damit in der Folge auch vor den heutigen Historiker_innen – zu verstecken. In anderen Fällen sind Leerstellen ganz klar an einen Herrschaftsdiskurs gebunden, der sich dagegen sträubte, das soziale Leben der Unterdrückten ans Tageslicht zu bringen – zum Teil durch einfache (und manchmal unbewusste) Verachtung, zum Teil aus einer vorsätzlichen und eigennützigen Absicht der damnatio memoriae heraus.
Einige soziale Strukturen sind hingegen in unseren Quellen nicht etwa deshalb unterrepräsentiert, weil sie Gegenstand eines Verdrängungsprozesses geworden sind, sondern weil sie, im Gegenteil, allen bekannt waren und von allen anerkannt wurden – was deshalb von der Notwendigkeit enthob, sie dokumentarisch aufzuzeichnen.
Dies gilt maßgeblich im Fall von Informationen zur Verwaltung (und ganz besonders zur Finanz- und Justizverwaltung). Solche Informationen werden in vielen Gesellschaften für den Forscher nur dann zugänglich, wenn ein Konflikt Anlass zur Ausarbeitung eines polemischen Textes gegeben hat, während die normalen sozialen Beziehungen unterhalb dieser Spitze des historischen Eisberges liegen und verborgen bleiben.
Schließlich ist in einem letzten Fall die Stille der Quellen, auf die Historiker immer wieder stoßen, stärker technischen Faktoren geschuldet: Das ist etwa der Fall für Gesellschaften ohne Schriftkultur oder für nur schwach ausgeprägte bzw. gestörte Sequenzen der Textüberlieferung. Bestimmte Ereignisse haben dazu geführt, dass in einer bestimmten Epoche wohlbekannte Informationen schlicht nicht auf uns gekommen sind.
Angesichts solcher weitläufigen Schattenzonen sieht sich der Historiker mit einem Dilemma konfrontiert. Geht man von der Vertrautheit der Beziehung aus, die ihn notwendigerweise mit seinen Quellen verbinden muss, dann wird er es einerseits gefährlich finden, Themenfelder zu erkunden, die in seinem Quellenmaterial keinen Niederschlag gefunden haben.
Das Risiko der Spekulation und die Gefahr von Argumenten a silentio sind mehr als real, und in vielen Situationen wird die intellektuelle Redlichkeit dazu zwingen, jene Phänomene als für immer verloren anzusehen, die es nicht in den Strom der Jahrhunderte langen Quellenüberlieferung geschafft haben. Andererseits bleibt es mitunter aber notwendig, gerade die Existenz jener historischen Phänomene zu berücksichtigen, die heute nur noch schlecht nachzuweisen sind. Zunächst, weil manche unter ihnen – auch wenn sie von den Quellen zum Verschwinden gebracht worden sind – zum normalen Funktionieren einer Gesellschaft dazuzugehören scheinen. Wer würde etwa behaupten, es gäbe eine größere Gruppe von Menschen ohne jede Form religiösen Skeptizismus oder ohne jede Reflexion über sexuelle Praktiken?
Daneben widersprechen aber auch manche Indizien, die in unseren Quellen enthalten sind, der vorherrschenden Stille und verbieten der Historikerin/dem Historiker zumindest die Annahme (wie sie beim Fehlen eines ausreichend großen Quellenkorpus mitunter schon getroffen worden ist), dieses oder jenes historische Phänomen habe schlicht und ergreifend nicht existiert. Mitunter also machen historische Informationen auch und gerade durch die Stille der Quellen hindurch auf sich aufmerksam – und dieser Widerspruch stellt jede Historikerin/jeden Historiker und mehr noch: jeden Doktoranden vor diskussionswürdige methodische Probleme.
Zwei keinesfalls exklusive Herangehensweisen lassen sich bei der Annäherung an dieses Problem herausstellen: Zum ersten können Themen, die Opfer einer Entwertung in den uns bekannten Quellen geworden sind, Gegenstand einer neuerlichen Aufwertung werden. Durch die Auswertung von marginalen oder bislang kaum oder gar nicht bekannten Quellen ist es möglich, die Existenz von Phänomen nachzuweisen, die auf den ersten Blick nicht zu existieren scheinen. Mitunter wird es sogar gelingen, die Perspektive umzukehren und zu belegen, dass diese Phänomene in einigen Situationen sogar vorherrschend waren, obwohl (oder besser: weil) sie im zur Verfügung stehenden Quellenkorpus nur selten erwähnt werden.
Hier handelt es sich also darum, die tatsächliche historische Rolle von Elementen zu rekonstruieren, die bislang im Schatten der Geschichte gestanden haben. Zum zweiten darf man aber auch unterstellen, dass ein Schweigen der Quellen selbst eine interessante historische Information darstellt, und daran die Bemühung knüpfen, eine solche Leerstelle zu interpretieren. Hier müssen dann all jene analytischen Ressourcen, die uns unter anderen von Soziologie und Psychologie zur Verfügung gestellt werden, mit den geläufigen Techniken historiographischen Arbeitens kombiniert werden, um das ausfindig zu machen, was in den Kategorien, die von den Akteuren der untersuchten Epoche mobilisiert wurden, diese Leerstellen erklären helfen kann. Das sind Risiken, aber auch Chancen eines historischen Ansatzes, der sich vom Rande – nämlich von der Stille – her, seinem Gegenstand nähert.
Programm

  • 09:00: Empfang der Teilnehmer_innen

09:10: Thomas LIENHARD (IFHA): Einleitung
09h30 : Joachim HENNING (Universität Frankfurt) : Wege der modernen Archäologie, das „Schweigen der Quellen“ zu überwinden

  • 10:30: Pause

10:45: Marc SMITH (École Nationale des Chartes) : La paléographie des écrits disparus
11:45: Nicolas OFFENSTADT (Universität Paris I) : Quand le crieur arrive sur la place publique… Jusqu’où le médiéviste peut-il faire parler son époque ?

  • 12:30 : gemeinsames Mittagessen

14:30 : Marian FÜSSEL (Universität Göttingen) : Spuren der Gewalt. Zur Quellenproblematik einer Kulturgeschichte der Schlacht im 18. Jahrhundert
15:30 : Falk BRETSCHNEIDER (EHESS) : Stille hinter dicken Mauern ? Quellen zur frühmodernen Welt der Einsperrung

  • 16:30: Pause

16h45 : Paul PASTEUR (Universität Rouen) : Des silences des femmes à ceux sur les hommes à l’époque contemporaine
17:45: Guillaume GARNER (IFHA): Schlussbemerkungen

  • 20:00: gemeinsames Abendessen
  • Bewerbungen:
    Reise- Verpflegungs- und Übernachtungskosten werden von dem IFHA übernommen. Alle interessierten Doktorand_innen müssen über solide Kenntnisse in den beiden Arbeitssprachen (Deutsch, Französisch) verfügen. Ihre Bewerbungsunterlagen (Motivierungsbrief und Lebenslauf) sind bis zum 10. November 2009 einzureichen, an:
    Herrn Thomas Lienhard
    Direktor des IFHA
    Senckenberganlage 31
    Hauspostfach 141
    D- 60 325 Frankfurt am Main.
    Website: http://www.ifha.fr
    URL zur Zitation dieses Beitrages: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=12500

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