Der Erste Weltkrieg in Selbstzeugnissen – Auszüge aus Beständen der Sammlung Frauennachlässe Nr. 118: Tagebuch von Anna H., 29. Oktober bis 10. November 1917, Graz

Anna H. (geb. 1903) besuchte eine private Klosterschule in Graz. Ihr Tagebuch von Oktober 1916 bis November 1917 liegt in der Sammlung Frauennachlässe als 112-seitige Kopie vor. Darin hat die bürgerlich sozialisierte Schülerin mit zumeist patriotischen Formulierungen kriegsbezogene Ereignisse – oder auch Gerüchte – eingetragen, die sie vermutlich aus Zeitungen abgeschrieben und dabei oft detailliert wiedergegeben hat. Ende 1917 hielt sie dabei u.a. fest, was sie über die russische „Revulution“ gehört hatte. Gleichzeitig formulierte sie auch immer ihren Wunsch nach einem baldigen Ende des Krieges. Die Einträge brechen nach dem 10. November 1917 unvermittelt ab. Weitere Aufzeichnungen sind nicht erhalten geblieben.

29.10. [1917]
Die Montagszeitung brachte heute ausführlichen Bericht: Görz [Gorizia], Monfalcone und Cividale von unseren und den deutschen Verbündeten eingenommen Über 100000 Gefangene, mehr als 700 Geschütze sind in unsere Hände gefallen. Die Mittagblätter melden daß Udine, eine Stadt in der venetianischen Ebene, in der unsere Truppen bereits festen Fuß gefaßt haben, durch die von unseren heldenhaften Truppen eingenommene Stadt Cividale in die Angriffszone {gerückt ist.} – Wie eben die Abendausgaben melden wurde auch der „Monte Sante“ und „Faite Hrb“ und der „große Pal“ erstürmt. Die Zahl der Gefangenen stieg auf 30.000, die Zahl der erbeuteten Geschütze auf 900. Den ganzen Angriff leitet unser gütige Karl I. [seit 1916 Kaiser von Österreich, geb. 1887] selbst. Auch Cormons, in /welchen/ einst die große Seidenspinnerzucht waren und das schon anfangs /anfangs/ des Krieges mit Italien von den Italienern eingenommen wurde, ist nun von unseren Truppen eingenommen worden. Mein Vater sagte heut habe der Feldmarschallleutnant v. Sch. zu ihm gesagt, er solle seine Verrechnungen mit dem Lt. von d. Proviantur ins Reine bringen, denn er meint das bald der Friede käme, dann natürlich alles drüber und drunter ginge. O! wenn dies so wäre! Wie würde da die Welt aufjauchzen! Der Friede solle werden mit Italien! Italien droht das gleiche Schicksal wie Rußland nämlich Revolution.
Italien muß dann Frieden /…/ ob es will oder nicht, denn sonst wird ihm das ganze Land weggenommen. Mit Rußland ist’s überhaupt aus, das kann uns nicht mehr schaden, Frankreich und England werden erdrückt wenn sie nicht Frieden machen wollen, da wir unser ganzes Heer zur Bekämpfung Frankreichs und England schicken können. Wenn es doch so wäre! – Gebe es Gott! – Bin schon begierig, was die morgigen Zeitungen bringen werden, ich kann es kaum mehr erwarten. –

30.10. früh.
Die deutschen Truppen machten wieder einen feinen Fang: In Karfrest [?] stand ein Zug bereits im Dampf zur Abfahrt bereit, als aus dem Walde deutsche Abteilungen hervorbrachen, den Lokomotivführer unschädlich machten und das ganze /Divisionskomando/, welches eben abfahren wollte, /gefangenommen/. Bei dem Stabe fand man sehr wichtige Aufzeichnungen. Die Gefangenen- und Beutezahl steigt immer. Bis jetzt ist es nicht annähernd zu bestimmen, wie hoch die Zahlen stehen. So wurden in Görz unter vielen anderen 120 schwere Lastenauto, vollbeladen mit /vorzüglichen/ Speisefett erobert. Gestern am Abende des fünften Schlachttages, war alles zurückgewonnen, was der Feind in 11 blutigen Schlachten, jeden km² mit 5400 Mann erkaufend, abgerungen hat. Die italienische Kärntnerfront ist in wichtigen Abschnitten erschüttert. In Schnee und Sturm entrissen unsere Truppen dem Feinde die seit 2 […] Jahren ausgebauten Stellungen südwestlich von Tarvis, bei Pontafel, im Plöckengebiet und auf dem großen Pal. Die Beute ist ungeheuer. Bei Plava allein /allein/ wurden 118 italienische Geschütze, aller Kaliber eingebracht. /Ein/ hier vorgehende Division nahm in wenigen Stunden 3000 Mann, 60 /Offizieren/ u. 60 Geschütze ab. Was und an Kriegsgerät in der jetzigen zwölften Isonzoschlacht erbeutet wurde übersteigt weit das /Beutergebnis/ unserer galizisch-polnischen Sommeroffensive vom Jahre 1915. Auf der Karsthochfläche stießen unsere Truppen, den San Michele nehmend, vor.

31.10.
Wie /…/ gestrigen Abendblätter melden, ist Udine bereits eingenommen. Die Räume hinter den Fronten der Verbündeten erhalten durch die langen Gefangenenzüge und der Kriegsbeute vielfach das Aussehen eines italienischen Heerlagers. Auch die Kärntnerarmee befindet sich schon auf /italienischen/ Boden. Die Verfolgung des geschlagenen Feindes gegen den Hochwasser führenden unteren Tagliamento [Fluß n der Region Friaul-Julisch Venetien] ist im vollen Gange. Hier kämpfen die Armee des Generalobersten Freiherrn v. Krobatin, Gen. d. Inf. Alfred Kauß, General v. Belaw, Generaloberst Boecovic.

2. November
Latisana [Stadt in der Region Friaul-Julisch Venetien] wurde eingenommen! Die Truppen sind in /unaufhaltsamen/ Vordringen.

3. November
Gemona [Ortschaft in der Region Friaul-Julisch Venetien] gefallen! Das ganze linke Tagliamentoufer /…/ unserer Hand. Der Fall Genomas ist von /weitgehenster/ Bedeutung. Der italienische Widerstand ist überall gebrochen. Die Operationen der verbündeten Streitkräfte, die in […] der Geschichte ihresgleichen nicht finden.

5. Novemb.
Übermorgen wird es nun 1 Jahr und ein Monat daß ich das Buch begonnen. So viele Ereignisse habe ich in der Zeit erlebt. Nun wird auch dieses Büchlein bald zu Ende sein. Die meisten Erlebnisse habe ich hier eingetragen.

7. November.
Unser Heer ist im ständigen Vordringen. Jetzt sind die größten Städte Friauls, eine Provinz im nordöstlichen Italien von unseren Truppen eingenommen. Englische mit dem General und französische /Hilfheere/ m. d. General kommen Italien zu Hilfe.

8. November.
Die Italiener sind in vollem Rückzug gegen die Pivac. Unsere Truppen sind am 6. ds. um 6 h in Cortina d’Ampezzo einmarschiert. Beim Überschreiten d. Tagliamento wurden 6000 Gefang. gemacht, bei Tolmezzo [Schönfeld, Tolmec] auch einige Tausend. Auch d. Dolomitenfront vom Kreuzberg bis über den Rollepaß von d. Italienern geräumt. Der Tagliamento überall überschritten. San Martina di Costrozza eingenommen. Vom Kreuzberg bis zum Rollepaß hinaus ist der Feind zum Rückzug gezwungen. Fdmschll. Freiherr v. Conrad nahm die Verfolgung auf. Auf dem Gipfel des Col di Lana dessen durch Sprengung erreichten Einnahme seinerzeit ganz Italien in Siegestaumel stürzte und auf dem Monte Piano wehen unsere Fahnen. Seit Mai 1915 streckt der Italiener seine begehrliche Hand nach dem Pustertale aus und nach Bozen, dem Herzen Tirols. Dank der unerschütterlichen Standhaftigkeit unserer Tapferen konnte des Feindes Hoffen nie und nimmer zur Tat werden. Die Vorteile, die er in diesem Raume in 2 ½ Jahren des Kampfes und der Arbeit errang, lassen sich mit Schritten zählen. Nun ist auch dieses Werk in wenigen Tagen völlig zusammengebrochen.

9. November.
In Rußland ist Revolution ausgebrochen. Alle Minister bis auf Kerenski verhaftet. [Alexander Fjodorowitsch] Kerenski [zeitweise Chef der Übergangsregierung zwischen Februar- und Oktoberrevolution, geb. 1881] entflohen. So lauten die heutigen Nachrichten. Nun ist während des Krieges die 2. /Revulution/ ausgebrochen.

10. November.
Der Widerstand der Italiener am Livenza ist gebrochen. Die Verbündeten haben den Fluß an der ganzen Front überschritten und dringen

Sammlung Frauennachlässe NL 53
Das vorliegende Kriegstagebuch von Anna H. endet mit dem hier zitierten abgebrochenen Eintrag vom 10. November 1917. Dass sie ein weiteres Buch verfasst hat, kann aufgrund des Eintrags vom 5. November 1917 vermutet werden. Diese – gegebenenfalls geführten –  weiteren Aufzeichnungn sind aber nicht erhalten geblieben.
Voriger Eintrag aus dem Tagebuch von Anna H. am 22. Juli 2017

Die Verwendung der Namen der Schreiber/innen und ihrer Familien folgt den vertraglichen Vereinbarungen der Sammlung Frauennachlässe mit den Übergeber/innen. In den Dokumenten genannte Namen dritter Personen werden aus Datenschutzgründen anonymisiert.

  • Zum Tagebuch von Anna H. siehe auch: Petra Putz, „Die heldenmutigen Truppen kämpfen siegreich an allen Fronten …“ Die Wirkung der Propaganda im Ersten Weltkrieg am Beispiel des Mädchentagebuchs von Anna H. (1916/17), Wien, Diplomarbeit, 2008.

Zitation dieses Beitrages: Der Erste Weltkrieg in Selbstzeugnissen – Auszüge aus Beständen der Sammlung Frauennachlässe Nr. 118, Tagebuch von Anna H., Datum, SFN NL 108, unter: URL