Ella Reichel (geb. 1905) lebte in Neulengbach, wo ihre Familie zum gehobeneren Bürger/innentum gehörte. In ihrem sporadisch geführten Tagebuch schilderte die 13-Jährige im Herbst 1918 aktuelle Ereignisse: Sie zählte einige politische Ereignisse auf und kommentierte sie, vermischt mit Berichten aus ihrem Freundinnenkreis, der Schule und ihrer Gardarobe. Sie benannte Todesfälle in der Umgebung und berichtete, dass die Schule wegen der Spanischen Grippe geschlossen sei. Gleichzeitig machte sich das Mädchen Gedanken über gesellschaftliche Konventionen und philosophierte über das Erwachsenwerden.
1. November 1918
Allerheiligen! Aber nicht wie sonst. Früher war alles so feierlich, und jetzt? Alles ist aufgeregt. Es hat sich auch großes zugetragen. Unser Kaiser Karl will abdanken und wir werden eine Republik bekommen. Wien ist keine Residenzstadt mehr, sondern nur eine Stadtgemeinde. Eine Revolution ist unausbleiblich. Die Leute fürchten sich schon alle. Sie denken wahrscheinlich dasz gemordet und geraubt wird. Unsinn! Bis zu uns werden sie ja gar nicht kommen die Revolutionäre. Ich fürchte mich nicht ein bißchen. Aber in Wien soll es ja schauderhaft zugehen. Nun genug von dem. […]
Von Luisl traf gestern eine Nachricht ein. Die O. schrieb, daß Luisl ein keckes Benehmen hat und daß sie nichts kennt, als essen und schöne Kleider. Auch ein Zeugnis hat sie mitgeschickt. 3, 2 und nur ein paar 1. Ich würde mich schämen an Luisls Stelle. [Die Freundin Luisl war seit Herbst 1918 in Gmunden zur Ausbildung.] Aber nun muß ich auch noch die Todesfälle bezeichnen.
Also: die Jüngste vom Schloßer M., die 9 jährige Greterl starb an Ruhr. Die Friedel P. starb an Tihus, ihr Vater an Lungenentzündung und ihre Mutter liegt auch an Tiphus inm St. Pölten. Frau S. starb an der spanischen Grippe! Mutter, Vater, Florl und ich hatten auch die Grippe, aber nur im leichten Grade. In unserer Gemeinde sind während dieser Zeit schon 50 Personen gestorben. Schrecklich! Nun etwas anderes. Im Oktober bekam ich von Frau R. einen wunderschönen Ring zum Geschenk. Gold und mit einem kl. Herz aus Türkis, darum kleine falsche Perlen. Heute hatte ich meinem Mantel zum erstenmal an, nachdem er gefärbt wurde. Er ist jetzt dunkelblau und sehr schön. Dazu hatte ich mein schwarzes Pelzerl und einen weißen umgeänderten Filzhut. Sehr herzig war ich heute angezogen. Seit 11. Oktober haben wir schon Ferien, wegen der Grippe. Am 5. November fängt die Schule wieder an. Fad! Ich lerne jetzt nicht mehr bei Hr. Ö. Klavier, sondern bei Gretl [ihrer älteren Cousine]. Man muß viel üben, lernt aber auch viel mehr. Ich lerne sehr gerne bei ihr.
Heute ist ein fader Tag. Regen und Regen und wieder Regen. Gar kein la Tousaint. Trotzdem ist nach dem Segen eine Prozession. Wie haben wir uns im Frieden immer auf Allerheiligen gefreut. Im alten Friedhof kleine Kerzerl anzünden und auf alle Gräber Kreuze von weißen und schwarzen Beeren machen, das war lustig. Aber wenn jetzt auch Frieden wäre, ich wäre ja doch schon zu groß dazu. Ach, daß ist fad, daß man immer hören muß: „So ein großes Mädel wie du bist, und noch immer spielen“. Wenn ich nur immer im so bleiben würde, wie ich jetzt bin. Aber das geht leider nicht!
Sammlung Frauennachlässe NL 38
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Zitation dieses Beitrages: Der Erste Weltkrieg in Selbstzeugnissen – Auszüge aus Beständen der Sammlung Frauennachlässe Nr. 139: Tagebuch von Ella Reichel, Datum, SFN NL 38, unter: URL