Die Eltern von Ella Reichel (geb. 1905) führten am Hauptplatz der Stadtgemeinde Neulengbach im Wienerwald eine Eisenwarenhandlung. Seit ihrem 8. Lebensjahr notierte sie sporadisch diaristische Aufzeichnungen. In den Beschreibungen der Ereignisse aus ihrem sozialen Umfeld waren Kriegsbezüge allgegenwärtig. Im Sommer 1918 war das u.a. die Enthebung ihres 44-jährigen Vaters aus dem Kriegsdienst oder Aktionen, bei denen Schulklassen Bromberblätter und Buchecken sammelten. Im Zuge dessen beschäftigte die 13-Jährige sich auch mit Geschlechterkonventionen. Im Herbst 1918 nannte sie zahlreiche Krankheits- und Sterbefälle in der Umgebung. Gleichzeitig wurde ein komfortabler Kuraufenthalt in Oberösterreich geschildert.
21. August 1918.
Ein Vierteljahr ist bald vergangen, seit ich zum letztenmal eingeschrieben habe. Seit dem hat sich vieles ereignet. Mitte Juni wurde mein Vater auf unbestimmte Zeit enthoben. Wir waren alle furchtbar froh darüber. Dann fuhr Mutter zu Doktor S. nach Sankt-Pölten, da ihre Drüse zu ungeahnter Größe angewachsen war. S. sagte, daß Mutter unbedingt nach Bad-Hall müsse. Da es sein mußte und Vater auch wegen der Drüse enthoben wurde, Mutter aber allein nicht fahren wollte, so fuhr auch ich mit. Am 25. Juni, ½ 8h früh wurde abgereist. Ich mußte natürlich früher aus der Schule austreten, da die Ferien erst am 15. Juli anfingen. Darüber kränkte ich mich selbstverständlich nicht. Am 18. September muß ich aber eine Prüfung ablegen, da ich sonst kein Zeugnis bekomme. Zum Glück traten auch „R.“ und „L.“ von meiner Klasse mit mir aus. Erstere fuhr auf Sommerfrische, Letztere wurde schwer krank. Also machen wir drei, die Prüfung mitsammen. Aber nun weiter. Nachdem wir abgedampft waren, errangen wir erst in St. Pölten mit Mühe und Not einen Platz, natürlich 2. Klasse. In unserem Abteil war auch eine Dame, die nach „Hall“ zur Kur fuhr. Die Fahrt war äußerst langweilig. Um ½ 5 h Nachmittags kamen wir in Hall an. Bei unserer Ankunft war sehr schönes Wetter. Wir gingen gleich in die uns von Frau Z. rekommandierte „Pension Albrecht“, wo wir auf 8 Tage aufgenommen wurden, dann aber wo anders hingeschickt wurden, da unser Zimmer schon vergeben war. Nachdem wir uns umgekleidet und gewaschen hatten, gingen wir auf Anraten Frau A.s noch heute zu Doktor „Haidentaler“. Er ist ein älterer Herr und war sehr lieb und freundlich. Mutter mußte früh und {Nachmittag} abends 3 Gläser Jodwasser trinken. Er verordnete auch, daß wir 4 Wochen hier bleiben müssen.
27. September 1918.
Wieder ist ein Monat vergangen. Luisl [eine Freundin] fuhr am 16. fort [sie besuchte in Gmunden eine Ausbildung oder hatte dort eine Dienststelle]. Beim Abschied weinte sie ein bißchen, ich aber nicht. Von ihr habe ich erst einen Brief erhalten. Sie hat schon 1 ½ kg abgenommen, aber Heimweh hat sie nicht. Heute erst, war unsere Prüfung. In allen Gegenständen weiß ich, daß ich lauter vorzüglich habe, nur in Rechnen weiß ich ’s nicht bestimmt. Wenn ich nur lauter vorzüglich hätte! Wenn ja, bekomme ich ein Buch. R. hat auch nicht lauter 1, L. brauchte keine Prüfung machen. R. und ich lernten immer bei uns, vor der Prüfung. Morgen bekommen wir die Zeugnisse. Auch Prüfungstage muß man zahlen. 12 K. Gemeinheit! Diese Woche war es richtig lustig in der Schule. Fräulein S. und U. [die Lehrerinnen] waren von Ungarn noch nicht hier. Daher hatten wir noch keinen geregelten Unterricht.
Vormittag wurden die 2. und 3. Klasse zusammengezogen und Frl. M. unterrichtete. Nachmittags gingen wir, die ganze Bürgerschule, Knaben und Mädchen mit Lehrer W. und R. (ein neuer Lehrer aus Asperhofen) Brombeerblätter sammeln. Es war furchtbar lustig.
Im Dreiföhrenwald spielten wir dann; der Kaiser schickt Soldaten aus. W. spielte mit. Es war riesig lustig. Dann gingen wir nach Hause. Vorgestern gingen wir auch wieder mit den beiden Lehrern. (R. hat eine wehen Fuß und hinkt.) Hansl ist das Herzpinkerl beider Lehrer.
In einem anderen Teile des Dreiföhrenwald’s suchten wir Bucheckern. Dann fingen wir mit den Buben zum raufen an, die uns immer mit Bucherln und Eicheln bewarfen. Wir nahmen Lehrer R.s […] Stock und schlugen den Hauptanführer der Buben, den Sch., windelweich durch, bis er weinte. Die Lehrer lachten ihn furchtbar aus. Dann spielten wir in 2 Teilen mit den Lehrern. Ein Teil, darunter Hansl und R., spielten ein Pfänderspiel und der andere, darunter ich, F., B. und W., spielten: der Kaiser schickt Soldaten aus. Auf unserer Seite war große Hetze mit […] W. Bei diesen Spiel wurde ich ein bißl bevorzugt. Dann, um ¼ 4 h gingen wir alle nach Hause. Am Wege kamen wir wieder mit den Buben in Streit und kurz bevor wir in den Markt kamen, wurden wir so wild, daß wir mit den Fäusten auf die Buben hieben. 2 schleuderte ich mit einem Stoß weg, daß sie gleich auf die Wiese purzelten. Endlich wurden wir ruhiger. Die Lehrer aber lachten nur dazu. W. sagte zu mir: „Na hör mal, Reichel, bist du aber grob.“ Der Gimpel! Glaubt, daß man mit den Buben vielleicht anders umgehen soll. Dann kamen wir endlich ermüdet heim.
Mein Ausschlag steht jetzt unter der Behandlung Doktor R. Hoffentlich wird er bald gut. Ja richtig, von Hall wollte ich noch schreiben. Es war nicht viel los die 4 Wochen. Theater gehen, spazieren gehen mit der Freundin L. und Z. Pepi. Mutters Drüse ist bereits schon gut. In Hall wurde sie geschnitten [operiert]! Sie fährt jetzt nach Wien, bestrahlen lasse. Ab 1. Oktober fangen bei mir leider die Klavierstunden an. Auf Französisch freue ich mich schon. Diesen Sonntag, den 21. starb die kleine Greterl vom Schloßer M. an Ruhr. Der junge {M.} und die Nanndl sind auch an Ruhr erkrankt. Dr. L. kam zu uns ins Geschäft und machte aufmerksam, daß in Neulengbach ein Tiphusephidemie sei. Entsetzlich! Die F. Pepi gegenüber hat ihn auch schon. Wenn mir niemand stirbt. Beim Nachtmahl hatten mir heute Heeringe in Bouillion. Wundervoll! Nun Schluß!
Sammlung Frauennachlässe NL 38 V
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Zitation dieses Beitrages: Der Erste Weltkrieg in Selbstzeugnissen – Auszüge aus Beständen der Sammlung Frauennachlässe Nr. 133: Tagebuch von Ella Reichel, Datum, SFN NL 38, unter: URL