Adolf Müller (geb. 1881) war in der Kriegsverwaltung tätig. Im September 1918 war er aus der Gegend von Sbarasch in der Ukraine nach Ostpolen versetzt worden. Seine Familie war inzwischen aus der Sommerfrische in Slavonien (Kroatien) wieder nach Wien zurückgekehrt. In den Schreiben aus dem Spätsommer und Herbst 1918 kommt zunehmend die Kriegsverdrossenheit und der Wunsch nach einem Ende des nun bereits mehrere Jahre dauernden Situation der Trennung zur Sprache. Gegenüber seiner Ehefrau skizzierte der Beamte auch Strategien, wie sie beide in der Zukunft das Familieneinkommen möglicherweise gemeinsam bestreiten könnten. Dem kleinen Sohn malte er zu dessen Geburtstag das kulinarische Schlaraffenland aus, das Wien in Friedenszeiten war – und das es wieder werden würde.
16./IX.18
Liebe Louise!
Die Übersiedlung ist schneller von Statten gegangen, als ich gefürchtet hatte. Gestern n.m. gegen 7 h fuhren wir von Lemberg weg u. waren heute 3 h morgens an Ort und Stelle um 5 h begann die Auswaggonierung – es lag dichter Nebel rings herum – gegen 9 h setzten sich die Fuhrwerke in Bewegung und nach vielleicht weiteren 20 Minuten waren wir an Ort & Stelle. Wir sind in Kasernen untergebracht die – vielleicht 1/2 Stunde außerhalb der Stadt gelegen – so in Pavillonform, ähnlich dem Wr. Versorgungsheim in Liesing [im Süden von Wien] angelegt sind, jedes einzelne Gebäude höchstens für 1 Halbkomp. Ich war jedenfalls, wie ich das Ganze sah, sehr angenehm enttäuscht. Lebensmittel sollen auch in der Stadt zu kaufen sein, nur noch viel teurer, als in Galizien! H. R. ist, glaube ich, in Lublin, das ist nicht weit weg von hier, wenn ich auf Urlaub fahre muß ich über Lublin & auch über Jedrzejow (1914/15) fahren! Wenn ich nur schon wieder auf Urlaub fahren könnte! Na vielleicht in 5 Monaten! Bis dahin ade, ihr Lieben
Adolf [quer über den Text geschrieben]
17./IX.18
Liebe Louise!
Wenn deine Übersiedlung so glatt abgelaufen ist, wie die unsere, kann ich dir nur gratulieren. Ich bin, nach den Erfahrungen, die ich bisher gemacht habe, mit dem Tausche zufrieden, in dem Punkte dürftest du mir wohl widersprechen, hoffentlich ists in Wien jetzt doch wenigstens besser, als im Sommer vor der Ernte [vermutlich in Bezug auf die Lebensmittelsituation]. R. schrieb mir, dass er in den nächsten Tagen nach Wien kommen dürfte & dich besuchen wird, ich habe meine Antwort an seine Wr. Adresse gerichtet. Auch Tante Marta schrieb mir, dass sie meine bzw. deine Glückwünsche erhalten habe & dass sie dir an die Wr. Adresse Antwort schicken wird. Nur Familie Lang [die Eltern der Cousine Christl Wolf] hüllt sich nach wie vor in Schweigen, das ich jedoch nicht mehr unterbrechen werde und wenn es bis zum nächsten Urlaub dauern sollte!! Hast du viel Mehl & Fett mit hineingenommen [aus Nasice in Kroatien nach Wien]. Und hast du es heil über die Grenze gebracht? Hast du nicht Frau A. ersucht dir, so wie Tante M. von Zeit zu Zeit 1 kg Packerln zu senden? Was ists mit Unterstützung?
Das alles interessiert sehr euren Vater
18./IX.18
Liebe Louise!
Deine Karte nebst Photographie habe ich heute erhalten und ersehe aus der letzteren, dass du sehr gut aussiehst, weniger gut sieht Otto aus [der ältere Sohn im Volksschulalter], der so schwarze Ringe um die Augen hat. Dem hätte es nicht geschadet, wenn er recht viel Milch getrunken hätte, gelungen ist nur, dass Tante Gisela böse ist, weil […] wir bei ihr nicht Speichel lecken wollen, aber nur getrost, auf einen Brief von mir kann sie lange warten. Und wenn sie noch so böse ist, das kränkt mich sehr wenig. Wer meine Korrespondenzen konstant keiner Antwort würdigt, der soll sich nicht beklagen, dass ich mich ihm mit meiner Korrespondenz lästig falle. Wie ist das Leben jetzt in Wien. Im Vergleich zu N. [Nasice] jedenfalls schlecht. Jetzt musst du halt von dem angesammelten Speck zehren.
Gruss und Kuss dir und Kindern von eurem Vater. Continue reading →