Der Erste Weltkrieg in Selbstzeugnissen – Auszüge aus Beständen der Sammlung Frauennachlässe Nr. 97: Tagebucheinträge der Niederösterreicherin Ella Reichel, 3. und 5. März 1917, Neulengbach

NL 38 Tagebuch Ella Reichel 1917 03 03Ella Reichel (geb. 1905) wuchs im Niederösterreichischen Neulengbach auf, wo die Eltern am Hauptplatz eine Eisenwarenhandlung führten. Ihre Schwester Anna war 1909 geboren worden. Seit ihrem 8. Lebensjahr notierte Ella Reichel tagebuchähnliche Aufzeichnungen parallel in verschiedenen Kalender- und Notizheften. Darin beschrieb sie einerseits die Ereignisse in ihrem sozialen Umfeld. Kriegsbezogene Themen waren im Frühling 1917 u.a. die Dienst-Verpflichtung ihres 44jährigen Vaters oder Kontrollen, bei denen die Menge von privat gekauftem Getreide überprüft wurde. Andere Informationen dürfte die 12jährige von Hörensagen oder aus Zeitungen erhalten haben.

Samstag, am 3. III. 1917.
Nach 1 1/4 Jahren schreibe ich wieder ein paar Zeilen. Der furchtbare Krieg hat noch nicht aufgehört. Am 28. Juni 1916 ist unser liebes Annal gestorben. [Die jüngere Schwester der Schreiberin litt an Trisomie 21.] Frau V. [das Kindermädchen] hat 8 Tage nach dem Tod das Feld räumen müßen. Marie [das Dienstmädchen] kocht jetzt. Am Sommer kam Tante Thea und Onkel Fritz. Sie blieben ein paar Wochen hier. Zu Weihnachten bekam ich sehr viele Geschenke. Vater [Paul Reichel, geb. 1873] ist Feuerwerker [Feuerwehrmann] geworden. Am 5. Jänner 1917 bekam ich Bauchfellentzündung. Die schwerste Krankheit die es gibt. Ich stand furchtbare Schmerzen aus. Doktor L. rettete mir das Leben. Jetzt bin ich Gott sei Dank wieder soweit hergestellt, darf aber noch nicht in die Luft. Am Vortag von meiner Krankheit waren Mutter, Luisl [?] und ich in St. Pölten bei Frau Z. um Mehl, wir bekamen 15 kg. Nachmittag kam die Getreidekommission. Wir hatten große Angst daß wir verraten wurden den nächsten Tag wurde ich krank. Zu Österreich, Deutschland, Türkei, und Bulgarien sind noch ein paar Feinde dazugekommen. Wir haben jetzt die Hungernot im Lande, in Wien starben Leute am Hungertiphus. Mutter und Omama jammern alle Tage. Nun aber genug, ich […] schließe.

5. März 1917.
Vergessenes muß nachgeholt werden. Am 3. April 1914 wurde der S. Hansi geboren [vermutlich ein Kind aus dem sozialen Umfeld]. Er ist jetzt ein reizender Kerl von 3 Jahren. Am 10. September 1916 fuhren Omama, Gretl [1897 geborene Cousine der Schreiberin] und ich nach Mariazell [einer der bekanntesten Walfahrtsorte in Österreich]. Es war eine herrliche Fahrt. (…) Vater hat Mitte März wieder Musterung [Paul Reichel war wegen einer Erkrankung vom Kriegsdienst freigestellt worden.] Heute Montag zog ich zum ersten Mal seit meiner Krankheit wieder feste Schuhe und Kleider an den früher hatte ich einen Schlafrock.

Sammlung Frauennachlässe NL 38
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Zitation dieses Beitrages: Der Erste Weltkrieg in Selbstzeugnissen – Auszüge aus Beständen der Sammlung Frauennachlässe Nr. 97: Tagebuch von Ella Reichel, Datum, SFN NL 38, unter: URL