Die Eltern von Ella Reichel (geb. 1905) führten am Hauptplatz von Neulengbach, nahe Wien, eine Eisenwarenhandlung. Das Geschäfts- und Wohnhaus stand am Hauptplatz der Kleinstadt. Die jüngere Schwester Anna war im Juni 1916 gestorben. Seit ihrem 8. Lebensjahr notierte Ella Reichel Tagebuchaufzeichnungen parallel in verschiedenen Kalender- und Notizheftformaten. 1917 begann sie, dafür ein versperrbares Tagebuch zu vewenden. In ihrem ersten Eintrag fasste die 12jährige auch Ereignisse aus ihrem persönlichen Umfeld sowie der Weltpolitik zusammen.
Neulengbach, 26. III. 1917.
Am 24. war mein Namenstag; der Tag, wo ich mein Tagebuch bekam. Auch andere Geschenke bekam ich: Ein Silberkörbchen mit frischen Blumen gefüllt, 2 Hyazinthen=Stöcke, eine große Mandeltorte und Geld von den Großeltern. Vor beiläufig 2-3 Monaten bekam ich Bauchfellentzündung. Jetzt erst genesen habe ich Hausuntericht von meiner Klassenlehrerin Fräulein Elisa S. Ich gehe in die fünfte Klasse, bin aber schon 12 Jahre alt, da ich vor 3 Jahren eine schwere Lungenentzündung bestehen mußte und daher ein Jahr pausierte. Gestern schneite es ununterbrochen den ganzen Tag am Abend war der Schnee schon 30–40 cm hoch. Heute taut es wieder. Gestern lag ich an sehr starken Schnupfen. Wir haben jetzt schon 2 Jahre 8 Monate furchtbaren Weltkrieg. Rußland, Frankreich, England und Serbien, Italien und Amerika halten zusammen, bei uns, Österreich, Deutschland, Türkei und Bulgarien. In Rußland (Petersburg) ist Revolution ausgebrochen. Zar Nikolaus hat abgedankt. Er, mit seiner Familie wurde gefangen genommen und auf Schloß Klein-Zarskoje=Selo gebracht. Die Revolution ist für den Frieden, da in Rußland Hungersnot herrscht. Auch bei uns ist schon die Hungersnot ausgebrochen, in Wien sterben schon viele Leute an Hungertiphus, Mein Vater [Paul Reichel, geb. 1873] ist als Feuerwerker in einer Kanzlei in Wien angestellt. Ist auch schon 2 Jahre eingerückt. Fährt aber alle Tage am abend nach Hause. Ich korrespondiere mit einem Leutnant, Namens B., aus dem Feld. Mein Cousin ist als Rechnungsunteroffizier bei Belgrad, der andere in Italien. (…)
2. April 1917.
Montag bekam meine Lehrerin ein Telegram, gerade in der Stunde und mußte sofort nach Wien fahren. Donnerstag, Freitag, und Samstag bin ich wieder gelegen, hatte eine leichte Influenza. Gestern, Samstag war ein herrlicher Frühlingstag. Mutter, Vater und ich waren bei Großvater, in der Villa. K. Annal, Luisl, Franzl und ich spielten im Garten. Habe von K. Pepi [Cousin der Schreiberin] gepreßte Veilchen aus Serbien bekommen. Heute ist ein trostloser Tag, immer regnet es. Will denn der Frühling gar nicht Einzug halten? Heute wieder keine Hausstunde gehabt, na’ mir liegt nichts daran. Vor Gestern werde hoffentlich kein mehr haben. Sie gibt immer furchtbar viel auf. Bin sehr froh darüber. Jetzt werde ich lese, da das Kränzchen gekommen ist. [„Das Kränzchen“ war eine speziell an Mädchen gerichtete Buchreihe, die in hoher Auflage seit 1899 erschienen ist. 1916/17 erschien der Titel „Im sonnigen Nest“ von Sophie Kloerss.]
Sammlung Frauennachlässe NL 38
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Zitation dieses Beitrages: Der Erste Weltkrieg in Selbstzeugnissen – Auszüge aus Beständen der Sammlung Frauennachlässe Nr. 100: Tagebuch von Ella Reichel, Datum, SFN NL 38, unter: URL