Der Wiener Friseur Georg M. (geb. 1884) schrieb seit Juni 1916 Postkarten aus der Kriegsgefangenenschaft in Astrachan an der Wolga in Russland an seine Verlobte Juli G. (geb. 1881). In den zwei einzigen erhaltenen ausführliche Briefen schilderte er detailliert die Umstände seiner (Monate zurückliegenden) Verwundung und Gefangennahme. Der erste Brief datiert mit März 1917. Am 4. Juni schilderte er nun näher sein aktuelles Befinden. Er beschrieb seine körperliche Verfassung, Umstände der ärztlichen Versorung sowie die Ernährungssituation. Angesprochen wurde auch direkt die Postzensur.
Im Falle Kuvertverlustes bitte ich, den Brief weiterzugeben an: Frl. Julie G. Sablat bei Prachatitz Böhmerwald Austria. [Übersetzung der Adresse auf Russisch]
Astrachan, 4. Juni 917. 66
Mein liebes Julei-Madl!
Bei diesen meinen zweiten Brief an mein Julei-Madl muss ich meinen Versprechen, eine Fortsetzung des ersten mit der Schilderung, wie ich noch Astrachan kam, untreu werden und eine andere Erzählung einschieben. Hervorgerufen wurde diese Wendung durch die Ankunft des vom Julei so präzise, effektuierten Paketes, das ich am Freitag, den 1. VI. hocherfreut und danken in Empfang nahm. – Als mir am Donnerstag das Paket avisiert wurde, sah ich der Ankunft desselben mit etwas gemischten Gefühlen entgegen, da mir das halbleere erste Kistel in Erinnerung kam, wo ich doch ganz bestimmt wusste, da ich doch mein Julei ganz genau kenne, – dass es so nicht abgesendet wurde. Aber diesmal wurde ich angenehm überrascht. Es war nämlich alles beschriebene vorhanden, bis auf das K. Flascherl [?] – das mir so-gut getan hätte bei meinem jetzigen Zustand. Aber davon später. Nur das Honigglas war gebrochen und hatte einen Teil des Paketinhaltes mit einen süssen Überzug versehen. Aber ich half mir einfach dadurch, dass ich alles sauber ausklaubte und die übergossenen Keks, Zucker u.s.w. und die übriggebliebenen Teile des Honigglasses zusammen in eine Schale stopfte und auf unseren Kochaparat aufwärmte, um schliesslich das Ganze durch Verbandstoff zu seihen, was tadellos gelang, wodurch ich noch zirka 1/8 L. Honig „rettete“. Aber trotzdem ist diese Verpackungsart die beste, nur gehören Gläser in etwas Wellpappe und Papier gewickelt, vielleicht noch in eine passende Schachtel gestellt und in die Mitte des Paketes praktiziert, dann kann nichts geschehen. Aber das sein nur nebenbei bemerkt. Natürlich wurde sofort Kaffee gebraut. Ach, das war ein Genuss, Julei! Der gute weisse Kaffe, die ausgezeichneten Keks, noch dazu 2 Stück Zucker, sage zwei Stücke Zucker im Kaffe, Julei, Du musst wissen, was das heisst, denn wir fassen für drei Tage viereinhalb Würfel, dazu rauchte ich eine österr. Zigarette, oje oje, Julei, beinahe dünkte es mir, als sei es ein Sonntag nachm. im Apartement Fehlingerg [der Wohnung der Empfängerin oder des Schreibers in Wien]. Aber schliesslich fehlte dazu doch noch manches. – Was den Tabak anbelangt, bekommen wir ja hier auch welchen zu kaufen, aber einen Vergleich hält er ja lange nicht aus. Den Honig muss ich mir noch einige Zeit aufheben, da ich, wie ich Dir schon mitteilte, durch 4 Monate starkes Abführen hatte und eine Verfehlung im Essen mir eine Rezitiefe bringen könnte. Jetzt bin ich seit 8 Tagen wieder Herr über meine Gedärme, und nun heisst es einige Zeit sehr vorsichtig sein einerseits und anderseits muss man trachten, das Verlorene wieder zu ersetzen, denn ich bin stark herunter gekommen, wie man sich leicht denken kann. Nun, ich habe ja das Glück, mir etwas verdienen zu können und zusammensparen werde ich mir hier nichts, Julei, alles wird zum Essen verwendet. Habe mir wohl einen Resevefond von fünfunddreissig Rubel durch zeitgemässe Sparsamkeit und einige kleine Finanzoperationen, – Sparen muss man da mit den einzelnen Kopeken, – zusammengelegt, werde mir aber nur zirka fünfzehn bis zwanzig Rubel als Dispositionsgeld für alle Fälle behalten, man weiss ja nicht was noch kommt und wozu man’s braucht, – das übrige aber und den Verdienst werde ich alles zum Essen anwenden. Denn ausser den vorher geschilderten Grund muss man jetzt auch wieder an die Malaria denken, der man hauptsächlich durch kräftiges Essen nur vorbauen kann. Ich hatte im Vorjahr dieses eckelhafte Sumpffieber zwei Mal, doch überstand ich es ziemlich gut. Nun und da sie zu Ende des Frühjahres auftritt und, wenn mans einmal gehabt hat, sie von Zeit zu Zeit immer wieder zum Vorschein kommt bis die Kälte eintritt, so tut man gut wenn man Vorbaut. Aber bis jetzt hat sich nichts bemerkbar gemacht, werde auch keine Überaschung davon erleben. Nun und weil ich schon dabei bin, muss ich Dir noch etwas von einer Krankheit, die ich hier durchmachte, mitteilen. Im Vorjahr, 3 Tage nachdem ich vom Spital ins Lager kam, über fiel mich plötzlich eine Mittelohrentzündung auf meinen, wie Du weisst, leidend gewesenen linken Ohr. Aber unser damaliger Oberarzt gab sich alle erdenkliche Mühe, mich vor einer Operation zu bewahren. Er behandelte mich täglich zweimal, kaufte mir von seinem Gelde Medikamente u.s.w. und es gelang ihm auch, über die Sache Herr zu werden. Leider kam er bald darauf weg. Einen Zahn musste ich mir damals auch ziehen lassen. Also, mein Gebiss wird immer gefährlicher. Aber leider kann man nichts dagegen machen. Bin nur froh, dass alles so gut abgelaufen ist. – Nun will ich wieder zurückkommen. Eine Überraschung bot mir die Fleisch Konserve. Selchfleisch mit Sauerkraut. Der Geschmack war mir schon ganz fremd. Kein Wunder, bei der hiesigen Kost. Hohen Wert hatte der Zucker. Denn wie schon gesagt, fassen wir alle 3 Tage den schon beschriebenen Zucker und Tee, dazu bekommen wir täglich das nötige kochende Wasser. Die Keks waren vorzüglich nur auf das K-Flascherl musste ich verzichten. – Deine Sehnsucht kann ich begreifen, Julei, geht es doch mir auch nicht anders. Wann es ein Wiedersehen giebt? Wer soll das wissen! Ich will es mir ersparen, dieser Wirtschaft den richtigen Namen zu geben. Die Leute, Männer die stark und immer gesund waren, sieht man dahinsterben und zu Grunde gehen und kein Ende, kein Ende. Fast könnte man daran zweifeln, die Heimat und seine Lieben wieder zu sehen. Nun will ich schliessen, Julei. Dieser Brief ist beinahe zu lang geraten. Aber ich apelliere an die Güte der Herren oder Damen der Zensur und Milde walten zu lassen, der hart auf die Probe gestellten Geduld noch ein Opfer zu bringen und diese Zeilen meinem Julei unverkürtzt zukommen zu lassen. – Ich freue mich, dass alles gesund ist und dass Du über Sommer bei Mamerle [Kosenamen für die Mutter der Empfängerin] bist. – Viele, viele herzliche Grüsse an Dich, Julei, Mamerle, allen unsern Verwandten und Bekannten. – Lebe wohl, Julei und sei innigst geküsst von Deinem
Schurlei
Sammlung Frauennachlässe NL 74
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Zitation dieses Beitrages: Der Erste Weltkrieg in Selbstzeugnissen – Auszüge aus Beständen der Sammlung Frauennachlässe Nr. 105, Brief von Georg M. an seine Verlobte Julie M., 4. Juni 1917, SFN NL 74, unter: URL