Ella Reichel (geb. 1905) wuchs im niederösterreichischen Neulengbach auf, wo die Eltern am Hauptplatz eine Eisenwarenhandlung führten. Die jüngere Schwester Anna war im Juni 1916 gestorben. Im Sommer 1917 war Ella Reichel in die Bürgerschule eingetreten. Seit ihrem 8. Lebensjahr hatte sie tagebuchähnliche Aufzeichnungen in verschiedenen kleinen Heftchen notiert. Ab 1917 führte sie ein gekauftes Buch mit seitlichem Schloss. In den Berichten ihrer verschiedenen Erlebnisse gab die 12jährige auch den Hinweis auf Konflikte mit dem Dienstmädchen der Familie. Diese Episode verweist indirekt auf Preisbindungen für Verkaufsgüter – und Handlungsspielräume wie Denunziation, die daran geknüpft waren. Daneben schilderte das Mädchen auch Propagandaveranstaltungen in der Schule.
7. Oktober 1917.
Die Schule hat wieder angefangen, es ist sehr lustig in der Bürgerschule. Im September und Oktober war ich 4mal in Wien beim Doktor, wegen meines Hautausschlages am Kopf. Jetzt habe ich manchmal so dumme Todesahnungen aber ich hoffe mit der Zeit werden sie vergehen, der Doktor in Wien hat gesagt, das komme in meinem Alter oft vor. Exzellenz D. [?] ist an Ruhr gestorben, seine Frau ist untröstlich. Vorgestern hat Mutter mit Marie [dem Dienstmädchen] einen furchtbaren Streit gehabt, Marie hat gesagt, sie wird die ganze Familie anzeigen, wegen Preistreiberei sind wir so schon angezeigt, wir sollten das Holz zu teuer […] verkauft haben, wir müssen 2000 Kr. Strafe zahlen. Nun, gestern hatten wir bei in M. eine große Hetze. Wir spielten Klavier und tanzten alle. Nun schließe ich. (…)
4. (Oktober) November 1917.
Gerade komme ich vom Kino nach Hause. Heute war es wirklich wunderschön, es wurde „Der Dorflump“ gezeigt. Ich habe mich so in das Stück hineingelebt, daß ich jetzt noch ganz verträumt bin. Meine Ferien sind jetzt auch zu Ende. Wir haben 4 Tage Ferien gehabt. Heuer war ich zum ersten Male bei der Allerheiligenprozession. Die W. [vermutlich eine Schneiderin] hatte unsere neuen Mänteln bis Allerheiligen nicht gemacht, Luisl und ich ärgerten uns furchtbar, heute haben wir sie erst bekommen. Sie sind wirklich fein und elegant geworden. Freitag putzten wir den Turnsaal in der Bürgerschule zu der Einnahme von Görz und überhaupt zu den großen Siegen am „Italienischen Kriegsschauplatz“ stattlich aus. Nach dem Aufputzen erlaubte uns der Herr Direktor P. zu turnen, mit was wir Lust hatten, natürlich leisteten wir dieser Aufforderung gerne Folge. Samstag räumten wir ab und turnten wieder. M. Hedi hat mir ein Buch, namens „Das Glück der Heimat“ und „Die Waldfee“, es ist wunderschön. Nun Schluß da es Abend ist.
28. November 1917.
Jetzt habe ich schon wieder lange nichts niedergeschrieben. Morgen wird es eine Woche, daß ich in Wien war. Wir machten nämlich mit der Schule einen Ausflug in die Marineausstellung, es war sehr fad. Doch um 12h fuhr ich mit der dritten Bürger [Abkürzung für Bürgerschulklasse] in den Prater, dort fuhren wir mit dem Ringelspiel, mit der Grottenbahn und hutschten uns [österreichisch für schaukeln], leider war die Hochschaubahn nicht offen, denn auf das freuten wir uns am meisten. Statt dessen fuhren wir mit dem Riesenrad. Um 8h sind wir fortgefahren und um ½ 7 h nach Hause gekommen. Vorige Woche hat es ein bißchen geschneit, doch nach ein paar Minuten wieder aufgehört. (…)
Sammlung Frauennachlässe NL 38
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Zitation dieses Beitrages: Der Erste Weltkrieg in Selbstzeugnissen – Auszüge aus Beständen der Sammlung Frauennachlässe Nr. 115: Tagebuch von Ella Reichel, Datum, SFN NL 38, unter: URL