Ella Reichel (geb. 1905) war 12 Jahre alt und lebte in Neulengbach im Wienerwald, wo die Eltern Hauptplatz eine Eisenwarenhandlung führten. Die jüngere Schwester Anna war im Juni 1916 gestorben. In den Tagebuchaufzeichnungen der Schülerin finden sich Schilderungen von Erlebnisse mit Freundinnen und von Freizeitaktivitäten unmittelbar vermischt mit Kommentaren zur politischen Lage sowie Berichten aus dem Umfeld in der Stadtgemeinde. Die inzwischen mehrjährige Kriegssituation wird dabei auf verschiedenen Ebenen sichtbar.
31. Dezember 1917.
Sylvester! Eben sind Mutter und ich von Frau O. gekommen, wir waren nämlich zum Neuen Jahre gratulieren und dabei überreichte ich gleich den Tischläufer, da er jetzt erst fertig wurde. Mir kommt das alte Jahr am Ende immer ganz schmutzig vor. Hoffentlich wird das Neue Jahr besseres bringen als das Jetzige. Heute waren Vater und ich beichten. Endlich hat Vater sein Versprechen eingelöst, da er nämlich versprochen hat, als ich heuer die Bauchfellentzündung hatte daß er dieses Jahr noch beichten gehen würde. Ich war sehr froh! Bei uns ist sehr viel Schnee, ich war alle Tage rodeln. Es gab eine große Hetze. Wir rodelten nämlich mit den Russen [vermutlich mit Kriegsgefangenen]. Luisl [eine Freundin] war Freitag wieder unausstehlich. (…) Heute feiern wir beim Großvater Sylvester. Vormittag haben wir schon gebacken. P. bringt einen Slibowitz [Schnaps] und dann wird eine Bowle gebraut. Wir gehen dann bald hinüber.
3. Jänner 1918.
Die Sylvesterfeier war ganz lustig. Wir tranken Tee und Champagneener und aßen Zechmeister-Krapferl [Gebäck] und Obst. Am Neujahrstage machten Vater, Mutter, Luisl und ich eine Schlittenparthie nach „Sieghartskirchen“ [Gemeinde in der Umgebung], es war sehr schön. Um ¾ 1 h fuhren wir fort und um ¼ 7 h kamen wir nach Hause. Gestern räumte ich unsern Christbaum ab. Heute schneit es schon wieder ununterbrochen. Montag fängt schon wieder die Schule an. Furchtbar fad! Leutnant B. [mit dem die Schreiberin seit April 1915 durch die Schule organisiert regelmäßig korrespondiert hat] ist in italienischer Gefangenschaft, man weiß nichts genaueres über ihn, geschrieben hat er noch nicht. P. hat ein kleines Mäderl am 30. November bekommen. (…)
24. Jänner 1918.
(…) Am 15. Jänner kam die freudige Botschaft, daß unsere Straffe auf 300K herabgegangen sei. [Die Familie war im Oktober 1917 von einem Dienstmädchen angezeigt worden, Holz zu einem überhöhten Preis verkauft zu haben.] Denselben Tag- (kam) starb Herr Apotheker, dann Frau E. und die Mutter von Frau N. Heute hat uns Fräulein S. [die Lehrerin] gelobt. Schluß!
14. Februar 1918.
Luisl, M. Gretl, M. Hansl und ich haben ein Kränzchen gegründet. Wir kommen alle Sonntage wo anders zusammen und jausnen und spielen dort. Den 9. Februar bekamen wir die Zeugnisse. Ich hatte lauter „vorzüglich“. Den nächsten Tag fuhren Mutter, Luisl, Franzl und ich ins „Theater“, nämlich da Faschingsamstag war. Wir waren in der „Volksoper“ [in Wien] es wurde das Stück „Rotkäppchen vom Wienerwald“ [Märchenspiel von Karl Schreder] gegeben. Es war wunderschön. Montag und Dienstag hatten wir Semesterferien. Heute vor 3 Wochen kam ein neuer Katechet [Religionslehrer] her. Er heißt Adolf S. und ist noch sehr jung. Er kommt immer in die Singstunde. Faschingmontag und -Dienstag war Z. Karl hier. Wir tollten den ganzen Tag wie die Wilden herum. Am Abend kam R. Mitzl Abschied nehmen, (denn sie ist jetzt in Graz und macht dort einen Handelskurs) und alle kamen zu uns und wir tanzten und spielten Pfänderspiele. Dienstag war nichts los. Am 8. Februar kam die Botschaft, daß mit der Ukraine Frieden sei und am 10. daß mit Rußland Friede sei. Endlich einmal ein Anfang zum allgemeinen Weltfrieden. Heute kaufte Mutter ein Eier um 50 h. Schauderhaft! Jetzt gehe ich, mir ein Buch auszuleihen, von H. Mitzl.
Sammlung Frauennachlässe NL 38
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Zitation dieses Beitrages: Der Erste Weltkrieg in Selbstzeugnissen – Auszüge aus Beständen der Sammlung Frauennachlässe Nr. 121: Tagebuch von Ella Reichel, Datum, SFN NL 38, unter: URL