Der Erste Weltkrieg in Selbstzeugnissen – Auszüge aus Beständen der Sammlung Frauennachlässe Nr. 104, Tagebuch von Anna H., 21. bis 26. Mai 1917, Graz

1917-05-21Anna H. (geb. 1903), die Tochter einer gutsituierten Grazer Wirtsfamilie, hatte im Oktober 1916 damit begonnen, Aufzeichnungen über die aktuellen (Kriegs-)Ereignisse zu führen. Im Mai 1917 konzentrierten sich ihre detailliert Darstellungen auf die 10. Isonzoschlacht. Ein zentrales Thema war weiters die Frage, ob ihr Vater in den Kriegseinsatz eingezogen werden würde. Aus den folgenden Einträgen geht hervor, dass die zunehmend angespannte Ernährungslage im Umfeld der 13jährigen ein großes Thema war, die dabei u.a. ein ‚Kriegsrezept‘ festhielt.

21. Mai.
Nach einer halbjährigen, so großen Vorbereitung setzten die Italiener zum Kampfe ein. Am 12. Mai begann d. 10. Isonzoschlacht. [Fluss in Italien/Slowenien] Was aber hat unsere Heeresleitung gegenüber dem getan? Alles wurde vorbereitet. Obwohl heute der neunte Tag der so schrecklichen Schlacht ist, errangen d. Italiener keinen Erfolg. Am Nordflüger der zwischen Görz [Gorizia, Stadt im Nordosten Italiens] und Tolmein [Tolmin, Stadt in Westslowenien] stehenden Truppen zwang die zusammengefaßte Wirkung unserer Geschütze den bei Auzza [Avce, Stadt in Westslowenien] steh am linken Flußufer stehenden Feind, über den Isonzo zurückzuweichen. Gestern Nachmittag schritt der Feind bei Vodike [Vodice, Stadt an der kroatischen Küste] abermals zu einen Angriff. Es kam zu wütenden Kämpfen, aus denen schließlich doch unsere tapfere Truppen als Sieger hervorgingen. D. Feind wurde unter schweren Verlusten die Höhen hinabgeworfen. Auch östlich von Görz erging es dem Feind in gleicher Weise. Am Karste [Karstlandschaft in Slowenen, Kroatien und Italien] wurden 3 Offiziere und 30 Mann gefangenommen.

22. Mai.
Heute hätte der Vater zur Musterung [Überprüfung der Eignung für den Wehrdienst] kommen sollen. Aber die Proviantur [für die Lebensmittelversorgung zuständige Stelle] wurde für morgen zur Musterung gegeben. Jetzt hat d. Vater C-Befund [niedriger Tauglichkeitsgrad] zum Dienst ohne Waffe geeignet. Jetzt bekommt er vielleicht A- od. B-Befund. Bekommt unser geliebter Vater A-Befund so kann er schon in 3 Wochen im Felde stehen. Ich habe jeden Tag gebetet, um d vom lieben Heiland zu erbitten, daß er den Vater nicht ins Feld kommen läßt, oder wenigstens in dann wieder gesund heimführt. Manche hl. Komunion hatte ich zu diesem Zwecke aufgeopfert. Also morgen um ½ 8 ist die Musterung. Gebe Gott, daß der Vater C-Befund bekommen möcht. Ich will heute recht innig zu Gott beten, daß er doch meinen Wunsche und den Wunsch u. d. Gebet meiner Mutter und meiner Geschwister erfüllen möchte.

23. Mai.
(W) Gott sei Dank! Der Vater hat C-Befund bekommen. Nun bleibt er hier in Graz. Unser Gebet hat doch viel geholfen.

24. Mai.
In der heutigen Zeitung wird berichtet, daß Kaiser Karl einen Befehl gegeben habe, daß allen die in die Jahren 1865 und 1866 gebornen ehestens längstes aber bis 30. Juni zu beurlauben sind. Dies ist auf ein baldiges Kriegsende zu schließen. Auch sagt d. Vater, daß bei der Musterung sehr wenig A-Befund bekommen hätten. Ach! Vielleicht kommt doch bald der Friede! Gott gebe es!

25. Mai
Ach! Jetzt ist wohl eine schrekliche Zeit! In einigen Tagen ist das Pfingstfest da. Wie manche wohl hätten gerne ein Stückchen Fleisch, um d. Pfingstfest zu feiern. Aber nichts ist zu bekommen. Weder ein Stückchen Fleisch, noch Mehl, noch irgend etwas anders. So manche Mutter wird weinend bei dem kaum etwas so teuer erstandenen Stückchen Fleisch stehen. Es ist wirklich traurig!

26. Mai.
Heute standen einige hundert Menschen beim Selchmeister B. angestellt, um ¼ kg Schweinefleisch zu erhalten. Kaum die Hälfte erhielt etwas von dem kleinen Vorrate. Um zu verhindern, daß die Leute Brot backen, beschlagnahmte die Gemeinde die ganze Germ [Hefe]. Mehl bekommt man ja jede Woche so wenig zugewiesen, daß dieses schon in 2 Tagen weg. ist. Wir haben vom Herrn B., einem Gastwirt aus Liebenau [7. Grazer Stadtbezirk], einen Braten zugesprochen bekommen, diesen müssen wir beim Münzgraben holen. Auf der „Ries“ hat der Vater einen Kalbschlögel erstanden. Da wir ein Gasthaus haben, so bekommen wir Ge Mehl zugewiesen. Da hat die Mutter von gesagt, sie werde d. Kriegskuchen versuchen. Zu diesen braucht man weder Eier noch Germ. Man gibt z. schwarzem Mehl [Roggenmehl] (and. bekommt man so nicht) schwarzen Kaffee und Backpulver statt Germ. Vater sagt immer, wir können glücklich sein, uns geht noch nichts ab, gegen das, was andern Kindern abgeht. Auch hat mein Vater öfters erzählt, daß sein Vater, also mein Großvater gesagt haben soll, „Solange die Menschen das Brot nicht zu schätzen wissen, wird keine Ruhe auf der Erde sein.“ Es ist jetzt wirklich so. Früher warf man das Brot weg, während man jetzt froh ist, wenn man auch nur ein wenig bekommt.

Sammlung Frauennachlässe NL 53
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  • Zum Tagebuch von Anna H. siehe auch: Petra Putz, „Die heldenmutigen Truppen kämpfen siegreich an allen Fronten …“ Die Wirkung der Propaganda im Ersten Weltkrieg am Beispiel des Mädchentagebuchs von Anna H. (1916/17), Wien, Diplomarbeit, 2008.

Zitation dieses Beitrages: Der Erste Weltkrieg in Selbstzeugnissen – Auszüge aus Beständen der Sammlung Frauennachlässe Nr. 104, Tagebuch von Anna H., Datum, SFN NL 53, unter: URL