Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte, Univ. Augsburg; Sophia Dafinger (Web)
Zeit: 08.-10.10.2025
Ort: Augsburg
Einreichfrist: 15.02.2025
Das Recht auf „körperliche Unversehrtheit“: So einfach und klar wie das Grundgesetz in Artikel 2 eine Antwort auf die Gewalterfahrungen der NS-Massenverbrechen zu geben versuchte, so komplex waren historische Hintergründe und zeitgenössische Debatten über die Frage nach einem Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper.
Unser Verständnis der (westlichen) Moderne und ihrer Ambivalenzen (Zygmunt Bauman) ist von der Vorstellung geprägt, die Gesellschaft habe sich seit dem 19. Jhd. zunehmend individualisiert und überwiegend autonom handelnde Subjekte hervorgebracht. Das souveräne Selbst, so die Annahme, zeichne sich gerade dadurch aus, dass es Verfügungsgewalt über sich selbst besitze. Im Gegensatz zur Frühneuzeitforschung hat sich die Geschichtswissenschaft für das 19. und 20. Jhd. aber bisher eher ausschnitthaft damit beschäftigt, wie Menschen über die Integrität ihrer und anderer Körper verfügen wollten und konnten. Dabei ist die Frage, wie sich Vorstellungen von (Un)versehrtheit und damit verbundene soziale Praktiken gewandelt haben, elementar für eine Analyse moderner Gesellschaften, weil sie unterschiedliche Dimensionen von Ungleichheit produzieren, katalysieren oder auch infrage stellen.
Ausgangspunkt der Überlegungen ist deshalb, (Un)versehrtheit von Körpern in Ideal und Praxis mithilfe der Zusammenführung von drei Forschungssträngen zu untersuchen: Körpergeschichte, Gewaltforschung sowie Forschungen zur (internationalen) juristischen Normsetzung und deren kultureller Aneignung sollen ein vertieftes Verständnis der Denkfigur körperlicher Unversehrtheit ermöglichen. Die Tagung soll dabei um drei Themenfelder herumgruppiert werden:
1. Menschen bilden, Körper disziplinieren – Familie und Erziehung
Gewalt in Erziehungskontexten hat seit der Jahrtausendwende aus einem gegenwartsbezogenen Aufarbeitungsimpuls heraus Aufmerksamkeit erfahren, z.B. im Rahmen der Erforschung sexualisierter Gewalt in den christlichen Kirchen. Zugleich ist die Empirie für Gewalterfahrungen im privaten Raum dünn. Gerade dort war und ist Unversehrtheit als Wert, Ideal oder gar Norm brüchig, können doch Kinder und Frauen bis heute offenbar nicht im selben Maße wie erwachsene Männer körperliche Selbstbestimmung für sich beanspruchen, obwohl rechtliche Regelungen zum Schutz vor Gewalt existieren. Am Beispiel von Familie und Erziehung muss die Zivilisierungsthese, die von einer zunehmend gewaltfreien Moderne ausgeht, deshalb hinterfragt werden.
2. Werte schöpfen, Körper schinden – Arbeit und Arbeitskampf
In den letzten Jahren wurde verstärkt Gewalt am Arbeitsplatz als Teil einer sozial-, alltags- und kulturgeschichtlichen Perspektive auf die Geschichte der Arbeit erforscht. Der Arbeitsplatz als Ort, an dem (körperliche) Arbeit vergütet und bewertet wird, an dem der Körper im Arbeitsprozess genutzt, aber nicht selten auch abgenutzt oder versehrt wird, ist insgesamt aber noch zu selten in körper- und gewaltgeschichtliche Fragestellungen einbezogen worden. Auch hier treffen unterschiedlichste Ansprüche aufeinander, etwa bei der Frage, inwiefern Prostituierte eigentlich über ihre körperliche Integrität bestimmen oder welche Belastungen Pflegepersonal zugemutet werden können. Zugleich lohnt es sich, Gewalt im Rahmen von Arbeitskämpfen in die Überlegungen miteinzubeziehen, wenn etwa Streikbrecher:innen physisch von Kolleg:innen angegangen werden.
3. Wunden heilen, Körper formen – Medizin und Reproduktion
Am Beispiel der Medizin scheinen sich die Grauzonen eines vermeintlich modernen Ideals körperlicher Unversehrtheit besonders plastisch darzustellen, ist es doch offensichtlich, dass der Eingriff in die körperliche Integrität Bestandteil des Heilens ist. Hinzu kommt die Diagnose der neueren Medizingeschichte, dass Diversität bis heute weder in der Diagnostik noch in der Behandlung angemessen berücksichtigt wird, so dass medizinische Praktiken Körper abseits der selbstgesetzten Norm nicht selten schädigen. Darüber hinaus ist die Reproduktionsmedizin Teil der Auseinandersetzung über die Rechte ungeborenen Lebens, die mit dem Recht der austragenden Person auf Selbstbestimmung gegebenenfalls konfligieren.
Die Organisator:innen laden alle Historiker:innen und historisch arbeitenden Sozialwissenschafter:innen ein, ihre Themenvorschläge im Umfang von etwa 2.000 Zeichen bis zum 15. Februar 2025 an sophia.dafinger(at)uni-a.de zu senden. Eine Publikation der Beiträge ist geplant.
Quelle: GenderCampus