CfP: Abtreibung und Fehlgeburt: Narrative, Praktiken, Diskurse (Publikation); bis: 15.12.2025

Curare. Zeitschrift für Medizinethnologie | Journal of Medical Anthropology; Florian Lützelberger (Web)

Einreichfrist: 15.12.2025

In La condition fœtale (2004) beschreibt Luc Boltanski die Ambivalenz, die die kulturellen und gesellschaftlichen Umgangsweisen mit dem Fötus prägt: Er erscheint zugleich als unsichtbares medizinisches Objekt, als Projektionsfläche sozialer Erwartungen, als rechtlich normiertes Leben im Werden und als intimes Geheimnis. Diese Gleichzeitigkeit des Sichtbaren und Unsichtbaren, des Privaten und Politischen, der Körpererfahrung und der gesellschaftlichen Zuschreibung strukturiert in besonderer Weise auch die Erzählungen und Praktiken rund um Schwangerschaftsabbruch und Fehlgeburt. Damit ist der Fötus nicht nur ein Grenzfall individueller Erfahrung, sondern auch ein paradigmatisches Objekt biopolitischer Regulierung im foucaultschen Sinn: An ihm verdichten sich Diskurse, die über Leben, Körper und Bevölkerung verfügen und so normative Ordnungen von Sexualität und Reproduktion herstellen. Zugleich eröffnet sich ein Spannungsfeld, in dem unterschiedliche Öffentlichkeiten und Gegenöffentlichkeiten aufeinandertreffen: Während juristische und medizinische Diskurse den Fötus in Normen und Kategorien fassen, entstehen in autobiographischen, literarischen oder künstlerischen Darstellungen Räume, die sich der hegemonialen Logik entziehen. In diesem Sinne lassen sich viele Narrative über Abtreibung und Fehlgeburt auch als Formen dessen verstehen, was Lauren Berlant (2008) als counterpublics beschrieben hat: kommunikative Räume, in denen marginalisierte Erfahrungen artikuliert und gegen dominante moralische und politische Ordnungen in Stellung gebracht werden. Schwangerschaftsabbruch und Schwangerschaftsverlust erscheinen so nicht nur als medizinisch-rechtliche Fragen oder individuelle Schicksale, sondern als Schnittstellen, an denen sich Konflikte um Sichtbarkeit, Anerkennung und die Deutungshoheit über den gebärenden Körper verdichten.
Die gegenwärtigen Debatten um Abtreibung und Schwangerschaftsverlust zeigen die Dringlichkeit des Themas: die Rücknahme von Roe v. Wade in den USA, die Aufnahme des Rechts auf Abtreibung in die französische Verfassung im Jahr 2023, aber auch die anhaltenden Kontroversen um die personhood des Embryos und die Regulierung von Reproduktion. Gleichzeitig sind es nicht nur juristisch-politische Auseinandersetzungen, die das Feld prägen, sondern auch literarische, künstlerische und autobiographische Zeugnisse. Das inzwischen … weiterlesen und Quelle (Web).