CfP: Postkoloniale Theorie, „Entwicklung“ und Entwicklungspolitik (Publikation: Peripherie); DL: 03.06.2010

PERIPHERIE. Zeitschrift für Politik und Ökonomie in der Dritten Welt 120 (Web)

Mit dem Aufruf zur Dekolonisierung von Wissen und der Infragestellung epistemologischer Gewaltverhältnisse haben postkoloniale Ansätze zu einem neuen Verständnis von Kolonialismus und dessen Fortdauer beigetragen. Sie haben auf die Bedeutung der Herstellung kolonialer Differenz für die Aufrechterhaltung von Herrschaft hingewiesen und damit auch neue Perspektiven auf Kolonialität eröffnet. Gerade in den Ausprägungen von Kontinuitäten im Sinne einer kolonialen longue durée rücken auch das Feld „Entwicklung“ sowie die damit verbundenen Diskurse, Praktiken und Institutionen ins Blickfeld postkolonialer Theoriekonzepte.

Die PERIPHERIE Nr. 120 wird ein Forum für postkolonial orientierte Arbeiten bieten, die sich mit dem Themenkomplex „Entwicklung“, Entwicklungstheorie und Entwicklungspolitik befassen. Das Heft erscheint in Kooperation mit der Prokla – Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, die sich in einer Schwerpunktausgabe mit postkolonialen sozialwissenschaftlichen Ansätzen außerhalb des genannten Gegenstandsbereichs befasst.
Vielerorts – und v.a. in der deutschsprachigen Rezeption – werden postkoloniale Theorien über ihr Erkenntnisinteresse und ihren Gegenstandsbereich definiert. Sebastian Conrad und Shalini Randeria formulieren ihr Anliegen als „Thematisierung des Fortbestehens und Nachwirkens einer Vielzahl von Beziehungsmustern und Effekten kolonialer Herrschaft“ (Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts und Kulturwis-senschaften. Frankfurt a.M. 2002, S. 24). Eine ähnliche Definition legen Maria do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan vor: Ihnen zufolge untersucht postkoloniale Theorie „sowohl den Prozess der Kolonisierung als auch den einer fortwährenden Dekolonisierung und Rekolonisierung“ (Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung. Bielefeld 2005, S. 8).

Bei näherer Betrachtung erweisen sich diese Konzeptionen als (mutmaßlich intentional) sehr weit gefasst, schließen sie doch auch die Arbeiten ein, die unter Stichworten wie Dependenz, Imperialismus und Neokolonialismus Abhängigkeits , Herrschafts und Ausbeutungsverhältnisse zwischen Metropolen und Satelliten, Zentrum und Peripherie bzw. in der Regel ehema-ligen Kolonialmächten und ehemaligen Kolonien untersuchen. Diese unterscheiden sich jedoch hinsichtlich ihrer erkenntnistheoretischen Grundlagen und ihres theoretischen Fokus oft überdeutlich von den Arbeiten von Edward Said, Homi K. Bhabha und Gayatri Chakravorty Spivak, die zumeist als die klassischen Beispiele postkolonialer Theorie angeführt werden.

Versteht man postkoloniale Theorie primär als „critiques of the process of production of knowledge about the other“ (Patrick Williams & Laura Chrisman (Hg.): Colonial Discourse and Post-Colonial Theory. A Reader. New York 1994, S. 8), lässt sich eine präzisere Definition vornehmen: Mit postkolonialen Studien sind demnach Ansätze bezeichnet, welche die koloniale Prägung von Repräsentationen und Identitäten auch nach der formellen Dekolonisierung untersuchen. Ihr Erkenntnisinteresse richtet sich darauf, wie auch heute noch in Diskursen Herrschaftswissen über „die Anderen“ produziert wird, und wie weniger eurozentrische Wissensformen aussehen könnten. Erkenntnistheoretisch wenden sie sich gegen positivistische Grundannahmen (Objektivismus, Empirizismus, Naturalismus) und auf der theoretischen Ebene versuchen sie Dichotomien (klassischerweise v.a. die zwischen aktiven Kolonisierenden und passiven Kolonisierten) zu überwinden.
Mit diesem diskursanalytischen Fokus hängt auch der Hauptvorwurf zusammen, mit dem postkoloniale Ansätze insbesondere von marxistischer Seite konfrontiert werden: die Vernachlässigung „materieller Verhältnisse“ zugunsten von „bloßen Repräsentationen“ (Arif Dirlik hat diese Kritik schon 1997 dezidiert vorgetragen). Dieser Vorwurf findet sich auch in der Auseinandersetzung mit den Development Studies wieder: „development studies does not tend to listen to subalterns and postcolonial studies does not tend to concern itself with whether the subaltern is eating“ (Christine Sylvester: „Development studies and postcolonial studies: disparate tales of the ‚Third World'“. In: Third World Quarterly, Bd. 20, Nr. 4, 1999, S. 703). Dazu ist zweierlei festzuhalten: Zum einen geht es postkolonialen Ansätzen nicht, wie bisweilen angenommen, um eine Privilegierung der „Repräsentationen“ zuungunsten der „materiellen Verhältnisse“, sondern darum, dass letztere für uns nur über erstere vermittelt greifbar sind, mithin auch diese Dichotomie fragwürdig ist.

Zum anderen trifft es zwar zu, dass die postkolonialen Studien hierzulande primär in den Kultur , z.T. auch in den Geschichtswissenschaften rezipiert wurden, kaum jedoch in der Soziologie, Politikwissenschaft und Ökonomie. Wie produktiv aber die Verbindung zwischen der Untersuchung von kolonialen Diskursen und von neokolonialen Herrschaftsverhältnissen sein kann, zeigen postkolonial geprägte Ansätze aus anderen Teilen der Welt, beispielsweise die vorrangig im anglo-amerikanischen Sprachraum verankerte New Imperial History oder Arbeiten der lateinamerikanischen Grupo Modernidad/Colonialidad, die an die Dependenztheorie und v.a. an den Weltsystemansatz anschließen. Vor diesem Hintergrund erscheint das Ausbleiben einer Rezeption postkolonialer Studien in den deutschsprachigen Sozialwissenschaften als ein Defizit, das neuere Arbeiten durch empirische sozialwissenschaftliche Forschung aus postkolonialer Perspektive beheben müssen, um sich so auf der Grundlage der engen Definition postkolonialer Theorie dem Erkenntnisinteresse der oben als zu weit erkannten Definition anzunähern.

Hinsichtlich der postkolonialen Auseinandersetzung mit „Entwicklung“ und Entwicklungspolitik ist zunächst auf die so genannten Post-Development-Ansätze einzugehen, welche vehemente Kritik am Eurozentrismus nicht nur des herrschenden, sondern auch weiter Teile des oppositionellen Entwicklungsdiskurses geübt, sich dabei jedoch kaum auf postkoloniale Theorien bezogen haben. Aus der Perspektive letzterer ließen sich einige der Post-Development-Ansätze sicher als verkürzt und dichotomisierend qualifizieren; die Frage bleibt jedoch, ob man ihrem Potenzial damit gerecht wird. Dieses liegt nicht nur in der fundamentalen Infragestellung der Regeln des Entwicklungsdiskurses, sondern in dem sich daraus ergebenden Raum für Alternativen einer Konzeptionalisierung von globaler Ungleichheit und den Versuchen von deren Bekämpfung, die nicht auf eurozentrischen Annahmen aufbaut. Dieses Potenzial wäre allerdings noch auszuloten, und der Vorwurf der Nähe einiger neopopulistischer Post-Development-Ansätze zu patriarchalen und reaktionären Denkmustern wird dadurch nicht entkräftet.

Darüber hinaus gibt es jedoch zahlreiche weitere Arbeiten, die sich mit Entwicklungspolitik aus postkolonialer Perspektive befassen und die fortdauernde koloniale Prägung von Repräsentationen und Identitäten in diesem Bereich untersuchen. So hat z.B. Maria Eriksson Baaz am Beispiel europäischer NRO in Tansania vorbildlich herausgearbeitet, wie in den Subjektivitäten der „EntwicklungshelferInnen“ Diskurse der Partnerschaft von altbekannten Strukturen der Selbst und Fremdbeschreibung überlagert und deformiert werden. Nur wenige stellen sich jedoch der Herausforderung, solche Analysen systematisch mit der Untersuchung politökonomischer Strukturen zu verknüpfen und Schritte im – umkämpften und unsicheren – Grenzgebiet von Poststrukturalismus und Marxismus zu wagen.
Auch wenn der Mainstream der deutschsprachigen Entwicklungsforschung (zuletzt Paul Kevenhörster & Dirk van den Boom: Entwicklungspolitik. Wiesbaden 2009) den disziplinären Horizont auf die Nachkriegszeit zu begrenzen versucht: Die „Entwicklung der Unterentwickelten“ machte dort weiter, wo die „Zivilisierung der Unzivilisierten“ aufhörte; die koloniale Erbschaft der Entwicklungspolitik ist unübersehbar. Welchen Stellenwert sie heute noch einnimmt, ist eine empirisch zu beantwortende Frage.

Vor diesem Hintergrund stellen sich folgende Fragen:

  • Wie und mit welchen Ergebnissen lassen sich postkoloniale Konzepte wie Orientalismus, Othering, koloniale Differenz, Hybridität, Mimikry, Dritter Raum, subalterne Repräsentation, strategischer Essentialismus, Kolonialität der Macht usw. auf die Gegenstandsbereiche der Entwicklungstheorie und -politik anwenden? Inwiefern lassen sie sich mit anderen kritischen, bspw. marxistischen Perspektiven auf „Entwicklung“ verbinden?
  • Wie können postkoloniale Ansätze zu einer Dekolonisierung von Wissen im Bereich der Entwicklungstheorie und politik und zu einer neuen dezentrierten Geopolitik dieses Wissens beitragen? Wie lässt sich die Geschichte von Moderne und Entwicklung neu schrei-ben?
  • Welche lokalen, indigenen oder subalternen Ansätze (Wissen, Praktiken, Diskurse) gibt es in (post )kolonialen Kontaktzonen der Entwicklungszusammenarbeit?
  • In welchem Verhältnis stehen postkoloniale und Post-Development-Ansätze zueinander? An welchen Punkten lassen sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausarbeiten? Wie sehen die im Post-Development postulierten „Alternativen zur Entwicklung“ konkret aus (gerade im Kontext der Weltwirtschaftskrise)? Und: in welchem Verhältnis stehen die Post-Development-Ansätze zur neoliberalen Kritik an der Entwicklungszusammenarbeit (aktuell: James Shikwati und Dambisa Moyo)?
  • Welche – divergierenden oder kohärenten – Perspektiven auf „Entwicklung“ zeigen regional und historisch unterschiedlich verortete Strömungen postkolonialer Studien auf? Welche Aufschlüsse können sie vor dem Hintergrund je spezifischer theoretischer Artikulationsverhältnisse und empirischer Schwerpunkte über gegenwärtige Entwicklungspolitik geben?
  • Wie lassen sich die aktuellen entwicklungspolitischen Kontroversen zwischen „Big Push“ (Jeffrey Sachs) und „Homegrown Development“ (William Easterly) aus postkolonialer Perspektive bewerten?
  • Welche praktischen Folgerungen für die Entwicklungspolitik bietet die postkoloniale Kritik? Oder wäre die einzig legitime Folgerung, den Begriff der „Entwicklung“ und/oder die Praxis der Entwicklungszusammenarbeit fallen zu lassen?
  • Wie verändert sich der Blick auf die Geschichte der Entwicklungspolitik, wenn diese nicht mehr als mit dem Jahr 1945 beginnend gefasst, sondern ihr Ursprung in der Kolo-nialzeit verortet wird? Welche Konsequenzen hat das für das Konzept „Entwicklung“ und für das Selbstverständnis gegenwärtiger Entwicklungspolitik?
  • Welche Kontinuitäten und Diskontinuitäten zwischen kolonialer und nachkolonialer Entwicklungspolitik lassen sich herausarbeiten? Verfolgten sie dieselben Ziele, mit denselben Mitteln? Welche praktische Rolle spielt die diskursive Abkehr vom kolonialen Rassismus, und welche Rolle spielt Rassismus in den heutigen Praktiken der Entwicklungszusammenarbeit? Welche Potentiale bietet ein intersektionaler Blick auf Herrschaftsverhältnisse in der Entwicklungspolitik, d.h. eine Perspektive, die neben Rassismus auch andere Hierarchisierungsmechanismen wie Klasse und Geschlecht berücksichtigt und deren Zusammenspiel untersucht?

Redaktionsschluss für erste Artikelfassungen: 3. 6. 2010. Bitte senden Sie Ihren Beitrag an:

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