Der Erste Weltkrieg in Nachlässen von Frauen Nr. 145: Briefe von Clara Ducraux an ihre Schwägerin, 29. Dezember 1918 aus Gilamont/CH nach Chemnitz/DE

Clara Ducraux (geb. 1860) war in Sachsen aufgewachsen, lebte mit ihrer Familie aber in Gilamont (Vevey) am Genfersee in der Schweiz. Im Brief zum Jahreswechsel 1918/19 an ihre jüngere Schwägerin Lili Stephani (geb. 1869) in Sachsen drückt sie ihre Empfindungen als „Deutsche“ nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und in den völlig veränderten politischen Verhältnissen aus. Aus dem umfangreichen Nachlass der Familie Stephani liegen mehrere hundert Korrespondenzstücke vor, die eine Nachfahrin als Abschrift der Sammlung Frauennachlässe zur Verfügung gestellt hat.

29. Dezember 1918
Meine liebe Lili!
Wie schwer es mir fällt Euch zu schreiben, kannst Du Dir vorstellen. Noch nie erlebte ich ein so trauriges Weihnachten; glücklicherweise waren wir unter uns, denn ich kämpfte beständig mit den Tränen. Meine Gedanken eilten wohl zu René [Sohn der Schreiberin, 1898-1918], der ein Jahr vorher auf einer Bahre unter den Christbaum getragen wurde und auf ein Doppelfest im Jahre 1918 hoffte, aber ich weiß ihn wohl geborgen bei seinem Heilande, den er so kindlich geliebt hat. Mein Schmerz bezog sich auf mein zertrümmertes Vaterland; ich sah im Geiste all die Tränen, die unter jedem Weihnachtsbaum des großen Deutschen Reiches vergossen wurden; fühlte die Entbehrungen der Kinder, die mir lieb und teuer sind, ohne ihnen helfen zu können. Ich mußte aufhören die spöttelnden, schadenfrohen Zeitungen zu lesen, ich wäre wahnsinnig darüber geworden. Was ich seit dem 11. November unter dem Siegesjubel der Hiesigen, die mit den Internierten wetteiferten; unter der Feigheit der hier ansässigen Deutschen gelitten habe, kann ich nicht beschreiben. Das Militär muß eben doch entsetzlich in Belgien gewütet haben, dortige Heilsarmeeoffiziere erzählen sogar davon und für einige grausame Führer muß nun ein ganzes, unschuldiges Volk leiden. Mit ist noch so vieles unklar und was würde ich dafür geben, einen Deutschen ausfragen zu können. Stellst Du Dir vor, welches Leid für die Heimgekehrten, die während vier Jahren umsonst rangen; gönnst Du nicht auch Hermann und Curt [Ehemann und Sohn der Adressatin, Bruder und Neffe der Schreiberin, beide getötet 1914] die Ruhe, diesem Schmerz nicht erleben zu müssen? Nun werden wir wohl ihre Grabstätten nicht mehr aufsuchen können. Auf wem ruht alle Schuld? Glücklich die, welche sich mit dem lebendigen Gott trösten können und das ist auch mein Wunsch fürs kommende Jahr, daß der Herr durch die Prüfung viele zum Glauben führe; bei ihm allein ist Gnade und Freude.
Du hast vielleicht von unserem Generalstreik gelesen, der durch die Grippe über 1000 Soldaten kostete und die Lazarette sind überfüllt mit Kranken. Die Grippe hat auch unter der Zivilbevölkerung große Verheerungen angerichtet. Die Kirchen waren lange geschlossen und sämtliche Schulen sind es noch. Gott sei Dank blieben wir bis jetzt verschont, wir hätten auch keine Zeit zum Kranksein! Die A. feierten Weihnachten unter sich mit Edith R., die vom Roten Kreuz einige Tage Urlaub erhielt. Marguerite [vermutlich die Tochter der Schreiberin] ist recht herunter vor lauter Verpimpelei ihrer Sprößlinge; sie hat so ganz die R.’sche Treibhauserziehung angenommen, was ihr und den Kindern schadet. An Sylvester kommen alle vier auf ein paar Tage, dann soll sie sich ausruhen. Eléonore [vermutlich eine zweite Tochter der Schreiberin] ist immer vergnügt und singt den ganzen Tag, trotz vieler Arbeit ohne Mädchen – wir fühlen uns so wohl nur unter uns. Wir wünschen uns aber sehnlichst passende Frauen für unsere alten Junggesellen; wir können doch nicht ewig ihre Strümpfe und Hosen flicken! –

Sammlung Frauennachlässe NL 177
Kein weiterer Eintrag aus diesem Nachlass der Familie Stephani.
Voriger Eintrag aus dem Nachlass von Familie Stephani am 23. September 2018

Die Verwendung der Namen der Schreiber/innen und ihrer Familien folgt den vertraglichen Vereinbarungen der Sammlung Frauennachlässe mit den Übergeber/innen. In den Dokumenten genannte Namen dritter Personen werden aus Datenschutzgründen anonymisiert.

Zitation dieses Beitrages: Der Erste Weltkrieg in Selbstzeugnissen – Auszüge aus Beständen der Sammlung Frauennachlässe Nr. 145, Brief von Clara Ducraux an Lili Stephani, 29. Dezember1918, SFN NL 177, unter: URL