Der Erste Weltkrieg in Selbstzeugnissen – Auszüge aus den Beständen der Sammlung Frauennachlässe Nr. 136: Briefe von Clara Ducraux an ihre Schwägerin Lili Stephani, 23. September 1918 aus Gilamont in der Schweiz nach Chemnitz in Sachsen

Clara Ducraux (geb. 1860) war in Sachsen aufgewachsen. Mit ihrer Familie lebte sie in Gilamont (Vevey) am Genfersee in der Schweiz. Von hier aus schrieb sie ihrer Schwägerin Lili Stephani (geb. 1869). Deren Ehemann Hermann Stephani (geb. 1864) war als Oberst gleich in den ersten Wochen des Ersten Weltkrieges 1914 bei Kampfhandlungen gestorben, ihr 19jähriger Sohn Kurt Stephani im November 1914. Aus dem umfangreichen Nachlass von Lili Stephani liegen mehrere hundert Korrespondenzstücke vor, die eine Nachfahrin als Abschrift der Sammlung Frauennachlässe zur Verfügung gestellt hat.

Brief vom 23. September 1918, geschrieben auf schwarz umrandeten Briefpapier

Meine liebe Lili!
Damit meine Zeilen rechtzeitig in Deine Hände gelangen, muß ich sie in dieser schweren Zeit schon heute absenden. Meine herzlichsten Glückwünsche zum Eintritt in ein neues Lebensjahr, zu Deinem fünften Kriegsgeburtstag und möge es auch der letzte sein! Die wirtschaftlichen Verhältnisse werden ja fürchterlich. Alles, was die Feinde Euch s. Z. [seinerzeit?] gewünscht haben, ist nun über sie selbst gekommen. Man sieht überall Elend, hungrige, halbnackte Kinder – die Aehren wurden einem bei der Ernte von einer Schar wartender Kinder fast aus den Händen gerissen; die Kartoffeln auf dem Acker gestohlen, sowie Messing von den Türen, […] u.s.w. […]; die Polizei gesteht sich machtlos ein inmitten all dieser hungrigen Menschen. Auf dem Lande kommt eine Kommission unsere Ernten in Beschlag zu nehmen; ehrlichen Menschen wird nur knapp zum Leben gelassen. Der Mensch ist ein auffallend geduldiges Tier geworden und von Freiheit ist keine Spur mehr vorhanden. Ich zittere für die Zukunft meines teuren Vaterlandes.
Nun wirst Du wohl Deiner Einsamkeit enthoben sein und Deine Elisabeth wieder bei Dir haben. [Elisabeth Stephani, die 1894 geborene ältere Tochter der Adressatin, war nach der vorgezogenen Matura 1914 als Rot-Kreuz-Schwester eingerückt. Ihre jüngere Schwester Christine Stephani war im Kriegshilfsdienst engagiert.] Ihr werdet Euch nach dieser ersten Trennung doppelt genießen. Ich fühle mich hier immer vereinsamter ohne meinen deutschen Jungen und doch bin ich Gott so dankbar ihn so friedlich heimgerufen zu haben; er ist ja nun aller Sorgen enthoben. [Der Sohn der Schreiberin ist 1918 aus nicht bekannten Gründen gestorben.] Viele junge Männer wurden hier unter großen Schmerzen von der spanischen Krankheit weggerafft und noch wütet sie unter dem Militär. Wo sind die sorglosen Zeiten, als Hermann [der Ehemann der Adressatin und Bruder der Schreiberin] Dich als junge Frau nach La Veyre führte, wo Du vor 24 Jahren Deinen Geburtstag feiertest? Sie sind für immer verschwunden. […] Bei uns ist fast alles beim Alten; wir arbeiten und leben so weiter in unserer Einsamkeit. Keines der Kinder zeigt eine Neigung zum Heiraten. Meine größte Freude sind die Briefe aus der Heimat.
Hier wird alles amerikanisch beurteilt, geliebt, geschwärmt und bin ich begierig zu sehen, ob dieses Volk [die USA] wirklich nur aus Menschenliebe auf den Kriegsschauplatz eingetreten ist.
Herzlichen Dank für Deinen lieben Geburtstagsbrief und den darin enthaltenen guten Nachrichten. Ist Dein Bruder Paul auch im Krieg?
Laß bitte bald mal wieder von Euch hören und empfange mit Deinen lieben Mädels unserer aller besten Geburtstagswünsche und Grüße.
C. Ducraux

Sammlung Frauennachlässe NL 177
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Zitation dieses Beitrages: Der Erste Weltkrieg in Selbstzeugnissen – Auszüge aus Beständen der Sammlung Frauennachlässe Nr. 136, Brief von Clara Ducraux an Lili Stephani, 23. September 1918, SFN NL 177, unter: URL