Anna H. (geb. 1903) besuchte eine private Klosterschule in Graz. Ihr Tagebuch von Oktober 1916 bis November 1917 liegt in der Sammlung Frauennachlässe als 112-seitige Kopie vor. Darin hat die 13-Jährige mit zumeist patriotischen Formulierungen kriegsbezogene Ereignisse – oder auch Gerüchte – eingetragen, die sie (vermutlich) aus Zeitungen abgeschrieben und dabei oft detailliert wiedergegeben hat. Anfang 1917 waren das z.B. Seeblockaden, Wirtschaftssanktionen und aufgedeckte Fällen von deren Umgehungen. In einem Eintrag wies die Schülerin auch darauf hin, dass der Wahrheitsgehalt der Schlagzeilen, die bereits 1914 den bevorstehenden Frieden vermeldet hatten, oft fraglich war. Dazwischen berichtete sie u.a. von der aktuell eisigen Witterung sowie aus ihrem Schulalltag.
7. Jänner. [1917]
Wir lernen in der Schule von Geschichte vom 30jährigen Krieg. Auch, wie schreklich war es zu jener Zeit. Und doch war es nichts gegen diesen Weltkrieg. Aus Rechnen lernen wir die Mischungsrechnungen. Auch haben wir einen sehr schönen Aufsatz gemacht. Er lautet: „Friede den Menschen auf Erden!“ (Liegt bei) [Die Beilage ist nicht erhalten]
9. Jänner.
Unsere heldenmutigen Truppen haben bereits die große Festung Foesani und die großen /Handelsstätte/ Galatz [Galati] und Braila [alle drei Orte in Rumänien] eingenommen.
12. Jänner.
Vater wollte einige alte Zeitungen haben, da zog ich die untersten vom alten Zeitungspack heraus. Eine davon war vom 11. November 1914. Da hieß die Aufschrift: „Schlacht gewonnen – Ende des Weltkrieges?“ Es ist doch gelungen! Im November 1914 ließt man [vom] bevorstehenden Frieden und heute, am 12. Jänner 1917 haben wir keine Aussicht auf einen Frieden!
15. Jänner
Unsere heldenmütigen Truppen drängen immer die Feinde zurück. Auch wird fleißig zur See gekämpft. Die Deutschen versenken täglich Schiffe.
20. Jänner.
In Ungarn sind große Schwindel vorgekommen. B Einige Ungarn sollen Getreide nach Italien geliefert haben. Auch wird gemeldet: Die Sicherheitsbehörden von Budapest u. Arad /beschäftigt/ sich schon seit 3 Wochen m. einer großangelegten Schwindelangelegenheit. Der Betrug wurde bei einer Kohlenlieferung auf Namen d. {ung.} Staatsbahnen verübt. Im Novemb. 1916 wurde auf der Strecke Budapest-Arad /ein/ strenge Frachtensperre angeordnet und Privatfirmen war es damals unmöglich Kohlen befördern zu lassen. Eines Tages traf in Arad ein aus 50 Waggon bestehender Kohlezug ein, der in /Kattowits/ [Katowice in Schlesien] an d. Adresse der ung. Staatsbahnen nach Arad aufgegeben war. D. Zug wurde von der Magazinvorstehung übernommen. Kurz darauf kam jedoch eine teleghraphische Weisung, daß die Kohlen nicht der Staatsbahn, sondern dem Arader Großhändler Sigmund /Roht/ gehören. Tags darauf langte eine Depesche der Staatsbahn-Direktion ein, in der angezeigt wurde, daß bei d. Lieferung ein Betrug erfolgt seie, und daß dreißig Waggon sofort zu beschlagnahmen seien.
23. Jänner.
Heute will ich nun v. d. Betrug, den ich am 20. erzählen angefangen habe, weiter schreiben: Die Erhebungen ergaben, daß d. Kohlenzug die Bahnfahrt mit außerordentlicher Schnelligkeit zurücklegte. Das Personal glaubte, die Kohlen werden für Bahnbetrieb benötigt, und deshalb wurden die Kohlen schnell befördert. Roth, der bei der Arader Polizei verhört wurde, legte das Geständnis ab, daß er die Kohle durch einen Budapester Großhändler bestellen ließ. Die Sicherheitsbehörde in Budapest verhörte diesen Großhändler, der aussagte, daß d. Kohle auf direkte Weisung Roths auf die Adresse der Staatsbahnen aufgegeben werden mußte, da ja sonst der Transport gar nicht möglich gewesen wäre. Der Betriebsleiter der ungarischen Staatsbahnen, Franz Justh ließ wegen des Vergehens gegen d. bewaffnete Macht die Strafanzeige erstatten. Es wird nun nach d. Schuldigen geforscht.
27. Jänner.
Seit Jahren haben wir keine so strenge Kälte gehabt. Dazu bekommt man absolut keine Kohle. Der Bahnverkehr u. d. Elektrischenverkehr [Straßenbahn] ist auch eingestellt und zwar wegen d. Kohlemangel. Sogar d. große Plattensee in Ungarn ist zugefroren.
30. Jänner.
Am 27. d. M. war d. Geburtstag d. deutschen Kaisers [Friedrich Wilhelm Viktor Albert von Preußen]. Alle Schulen waren an dem Tag geschlossen. Kaiser Karl I. besuchte den deutschen Kaiser im Hauptquatier.
3. Februar
Schon wieder ist ein /ganzez/ Monat zu Ende. Wir schreiben jetzt den Aufsatz „Der reichste Fürst“ ein. In Naturlehre lernen wir jetzt von den Genußmitteln, das letzte von Chemie. (aber) Jetzt kommen wir zu einem Kapitel, welches das Schwerste unter allen Kapiteln sein soll. Aus Rechnen lernen wir jetzt die Kursberechnung.
7. Februar.
Deutschland hat jetzt eine Blockade erlassen, um England auszuhungern. Es hat eine bestimmte Zeit den Neutralen gegeben, daß sie ihre Schiffe aus der Blockadezone entfernen lassen. Bald wird diese Zeit zu Ende sein und dann wird Deutschland rücksichtslos alle Schiffe versenken, welche sich in die Zone hineinwagen.
10. Februar
Die Wirkung der U-Bootsperre ist eine gewaltige. Täglich werden Schiffe versenkt. Viele Engländer sind nach der Schweiz gefahren. Früher glaubte man in England, daß die Seesperre nicht durchgeführt werde. Da sie sie nun verwirklicht sehen, wollen manche Engl. trachten, daß sie ans Festland kommen. Jene Schiffe, welche zwischen England u. Frankreich verkehren, sollten kaum den 10. /teil/ der Menschen fassen gekonnt haben, so viel Engländer trachteten nach Frankreich zu kommen. Auch der rege Schiffsverkehr von Schweiz m. Marseille geriet ganz ins Stocken. Die Schiffahrtsgesellschaften lassen ihre Schiffe nicht ausfahren, um sie nicht dem Untergang auszusetzen, trotzdem sie von der Regierung schon wiederholt aufgefordert worden sind.
Sammlung Frauennachlässe NL 53
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Die Verwendung der Namen der Schreiber/innen und ihrer Familien folgt den vertraglichen Vereinbarungen der Sammlung Frauennachlässe mit den Übergeber/innen. In den Dokumenten genannte Namen dritter Personen werden aus Datenschutzgründen anonymisiert.
- Zum Tagebuch von Anna H. siehe auch: Petra Putz, „Die heldenmutigen Truppen kämpfen siegreich an allen Fronten …“ Die Wirkung der Propaganda im Ersten Weltkrieg am Beispiel des Mädchentagebuchs von Anna H. (1916/17), Wien, Diplomarbeit, 2008.
Zitation dieses Beitrages: Der Erste Weltkrieg in Selbstzeugnissen – Auszüge aus Beständen der Sammlung Frauennachlässe Nr. 94, Tagebuch von Anna H., Datum, SFN NL 53, unter: URL